Was haben Teams und Heringe gemeinsam?
Heringe leben in Schwärmen von teilweise mehreren Millionen Tieren. Solche Schwärme bilden und erhalten sich ausschließlich aufgrund abgestimmten Verhaltens der Mitglieder - ganz ohne Führung, Verabredung oder auch nur bewusste Absicht. Schwarmverhalten ist eine Form von Selbstorganisation.
Das Konzept der Selbstorganisation ist in erstaunlich vielen wissenschaftlichen Disziplinen bekannt. Die fachspezifischen Definitionen unterscheiden sich. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Verständnis von Selbstorganisation als das Entstehen von Struktur bzw. Ordnung in einem System aus sich selbst heraus - ohne Steuerung von außen.
Bei der Arbeit mit Teams spielt der Begriff Selbstorganisation auch eine große Rolle - spätestens seit der Erwähnung im Agilen Manifest von 2001.
Während bei den Heringen das Konzept recht einheitlich verstanden wird, ist das im Zusammenhang mit Teams nicht der Fall. Hier finden sich teilweise sehr unterschiedliche Interpretationen des Begriffs, was das gegenseitige Verstehen nicht eben erleichtert. Die Spanne reicht von einem an der Biologie angelehnten Verständnis (also ähnlich als Mechanismens ähnlich wie bei den Heringsschwärmen) hin zu eher weltanschaulichen Bedeutungsgebungen. Letztere verorten Selbstorganisation begrifflich nahe an Selbstbestimmung. Sie gehen davon aus, dass Menschen sich (beruflich) nur dann vollständig entfalten können, wenn das Umfeld frei von jeglichen nicht demokratisch legitimierten Autoritäten ist.
Selbstorganisation als ungeplante Verhaltensmuster in Gruppen
Ich möchte Selbstorganisation im Kontext von Teams gerne so verstehen, dass damit stabile Verhaltensmuster gemeint sind, welche sich ausbilden, wenn Menschen in Gruppen interagieren. Der Etablierung jener Muster liegt keine planvolle Absicht zugrunde. Oft sind diese Muster so stabil, dass sie über viele Jahre andauern und sogar den Austausch aller beteiligten Akteure überdauern.
Diese selbstorganisierten Verhaltensmuster haben dabei großen Einfluß auf die Zusammenarbeit - im Guten wie im Schlechten.
Gemäß meiner Lesart ist Selbstorganisation ein Effekt, welcher bei allen Gruppen auftritt. Der Effekt ist dabei zunächst weder positiv noch negativ sondern lediglich erst einmal vorhanden. Die Bewertung hinsichtlich der Auswirkungen der Selbstorganisation hängt einerseits davon ab, welche Verhaltensweisen sich konkret manifestieren und diese ist abhängig von den Rahmenbedingungen und in jedem Kontext unterschiedlich. Andererseits richtet sich die Einordnung der Effekte in nützlich oder hinderlich nach dem Blickwinkel desjenigen, der die Bewertung durchführt. So ist es ohne Weiteres möglich, dass dieselben Selbstorganisationsphänomene von unterschiedlichen Standpunkten aus als positiv und negativ bewertet werden.
Bei den Heringen lässt sich die Kontextabängikeit der Bewertung auch beobachten. Evolutionär betrachtet stellt der Schwarm einen Vorteil dar. Insbesondere bietet er in der Regel (im Vergleich zu einzeln schwimmenden Fischen) größeren Schutz vor Feinden. Allerdings gibt es Fressfeinde die sich auf die Jagd von Heringen in Schwärmen spezialisiert haben und dabei so geschickt vorgehen, dass der Schutzeffekt negiert wird. Bei der Begegnung mit einem Schwarm Barrakudas wäre es vorteilhaft, den Schwarm aufzulösen. Diese Möglichkeit steht den Heringen jedoch nicht zur Verfügung.
Die Bedeutung von Selbstorganisation für die Arbeit mit Teams
Im Vergleich zu den Heringen im Schwarm, denen (soweit wir wissen) die reflektiert abstrahierende Metaperspektive nicht zur Verfügung steht, sind wir in der Lage, bewusst mit Selbstorganisationseffekten umzugehen.
Selbstorganisation als Tatsache akzeptieren
Der erste Schritt besteht aus meiner Sicht darin zur Kenntnis zu nehmen, dass Selbstorganisation Teil jeden Teams ist, ob man das möchte oder nicht.
Der zweite Schritt ist zu akzeptieren, dass Selbstorganisation sich gezielter Steuerung entzieht, jedoch bewusst beeinflusst werden kann.
Mit der Selbsorganisation arbeiten anstatt gegen sie
Aus diesen beiden Schlussfolgerungen lässt sich ableiten, dass es wenig Sinn macht, so zu tun, als gäbe es Selbstorganisation nicht, oder stumpf dagegen zu arbeiten in dem Versuch, die gewollten und designten Verhaltensmuster zu erzwingen.
Derartige Versuche kosten in meiner Erfahrung viel Kraft und bringen im besten Fall nichts. Schlimmer ist, wenn sie Effekte zeigen, nur nicht die Beabsichtigten und daraus die fatale Schlussfolgerung gezogen wird, die Dosis zu erhöhen.
Besser, als der hilflose Versuch gegen Strom zu schwimmen, scheint es mir zu sein, Selbstorganisation als Tatsache zu akzeptieren und mit ihr zu arbeiten statt gegen sie. Und das ist meiner Meinung nach auch im Agilen Manifest gemeint.
Gezielte Beeinflussung
Ein Ende, der Versuche mit Managementinstrumenten gegen selbstorganisierte Muser zu arbeiten, kann viel konstruktive Energie freisetzen, die bisher für diese Versuche und die Gegenreaktionen aufgewendet wurde.
Ich möchte dabei nicht der Idee das Wort reden, den Dingen von da an ihren Lauf zu lassen, und das Beste zu hoffen. Ausgehend von der Idee, dass Selbstorgansiation erst einmal nur stattfindet, ist es unrealistisch anzunehmen, dass von hierarchischen Strukturen befreite, sich selbst überlassene Teams und Organisationen automatisch förderliche Verhaltensweisen ausprägen.
So wie ein Gärtner seine Pflanzen nicht zwingen kann schneller zu wachsen, wird er dennoch darauf achten, wie sich die Pflanzen entwickeln, Unterstützung, bspw. in Form von Rankhilfen, geben und unerwünschte bzw. schädliche Wucherungen beseitigen.
Ohne richtunggebenden Impuls ist es nach meiner Erfahrung wahrscheinlich, dass sich opportunistische Verhaltensweisen ausbilden, und Organisationsmitglieder das vorhandene Vakuum mit der Verfolgung eigener Interessen füllen.
Gestaltete Selbstorganisation
Mit gestalteter Selbstorganisation meine ich, Rahmenbedingungen zu gestalten, innerhalb derer Teams und Organisationen ihren Weg finden, und zwar so dass das Ergebnis nützlich für die Organisation ist.
Dafür ist es notwendig, zuerst einmal zu beobachten, welche selbstorganisierten Muster zu erkennen sind und zu beurteilen, inwieweit die daraus resultierenden Effekte nützlich oder schädlich sind.
Auf dieser Grundlage ist es möglich, Veränderungen an den Rahmenbedingungen zu überlegen, welche positive Auswirkungen auf die vorhandenen Verhaltensmuster haben können und diese Veränderungen zu probieren.
Weniger ist dabei mehr. Denn - und das ist der Unterschied zu traditionellen Ansätzen - die Wirkung auch der am besten durchdachten Veränderung ist nicht planbar. Es kann immer zu unbeabsichtigten, nachteiligen Effekten kommen. Deshalb empfiehlt es sich, klein und schlank anzufangen, sich experimentell heranzutasten und die Effekte aufmerksam zu beobachten.
Fazit
Teams sind am Ende also doch ein bisschen wie Heringe in dem Sinne, dass sich auch bei ihnen selbstorganisierte Muster zeigen, welche unabhängig von bewussten und steuernden Entscheidungen sind. Diese Muster sind weder gut noch schlecht, sondern erst einmal eine Tatsache. Anders als bei den Fischen besteht bei Teams die Möglichkeit, diese Effekte bewusst wahrzunehmen und im Sinne der Organisation zu gestalten. Erfolgversprechend ist dabei, nicht gegen die Selbstorganisation zu arbeiten sondern mit ihr.
Selbstorganisation, sich selbst überlassen, läuft Gefahr u.a. in opportunistisches Verhalten abzudriften. Eine Gestaltung der Selbstorganisation, welche sich der Grenzen der Steuerbarkeit bewusst ist, kann die Teams ermöglichen, ihr Potential zu entfalten.
Auf dem LeanSummerFestival im September berichte ich von meinen Erfahrungen mit einem solchen Team.
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