Lean Management im Handwerk

Lean Management im Handwerk

Der Einsatz von Lean Management Methoden und Werkzeugen ist in produzierenden Industrien mittlerweile sehr stark verbreitet und mehr oder weniger erfolgreich in dem Maße, wie auch die zugrundeliegenden Prinzipien und Kulturaspekte berücksichtigt werden.

#leanmagazin
10. Januar 2022 um 05:30 Uhr in LeanMagazin von Götz Müller


Auch in der Dienstleistung nimmt die Verbreitung kontinuierlich zu (Banken, Versicherungen aber auch im Gesundheitswesen). Dabei kommt es auch immer wieder zu Widerständen, die oft in Zweifeln bzgl. der Einsetzbarkeit begründet sind oder damit vorgeschoben werden.

Nicht selten drücken sich die Zweifel in immer wieder ähnlichen, manchmal pauschalen Aussagen aus: „Das funktioniert bei uns nicht“, „Bei uns ist das aber ganz anders“, „Das haben wir schon probiert, funktioniert aber nicht“.

Vergleichbare Situationen treten auf, wenn Lean-Aspekte im Handwerk eingeführt werden sollen. Deshalb lohnt es sich, sich mal Gedanken zu machen, was denn das Handwerk bzw. Handwerksbetriebe besonders auszeichnet. Eine Umfrage in meinem Netzwerk und meine eigene Einschätzung von Kundenbetrieben hat Folgendes ergeben.

Leistungen im Handwerk haben meist die Losgröße 1. Das gilt sowohl für klassische Dienstleistung (oder haben Sie mehrere Köpfe und selbst Zwillinge begeben sich einzeln unter die Schere bzw. werden dort so „behandelt“ ????  ) als auch für Leistungen, bei denen so etwas wie ein Produkt entsteht (bspw. das neu geflieste Bad). Natürlich bestätigen Ausnahmen mal die Regel, bspw. wenn im Baugewerbe ein Gebäude mit mehreren gleichen Einheiten (bei dem Bad werden kaum die Fliesen einzeln betrachtet) entsteht.
Anmerkung des Autors: Solche Beispiele wurden in der Podcast-Episode 031 – Prozesse in der Unikat-Produktion http://www.geemco.de/artikel/kaizen-2-go-031-prozesse-in-der-unikat-produktion/ behandelt.

Die Leistungen werden ebenfalls in großer zeitlicher Nähe zu einem Kundenbedarf erbracht. Die Autolackierung wird eben erst nach einem Unfallschaden erbracht und nicht mal ansatzweise irgendwie auf Vorrat wie die Produktion einer Kaffeemaschine oder eines iPhones. Ggf. wird auch eine Entwicklungsleistung wie der Entwurf eines Hauses durch einen Architekten oder einer Visitenkarte oder Website durch einen Mediengestalter erst im Bedarfsfall vor der eigentlichen „Produktion“ erbracht.

Die Leistungserbringung findet oft vor Ort bei einem Kunden statt, sei es nun der Einbau einer Küche, das Verlegen eines neuen Teppichbodens oder eben die schon erwähnten Fliesen im Bad. Manchmal gehen dieser Tätigkeit noch Aktivitäten in der Werkstatt voraus (Produktion der Rohteile für den neuen Kleiderschrank), manchmal sind es ausschließlich Tätigkeiten vor Ort (bspw. die Reinigung der Fenster und der Fußböden in einer Arztpraxis durch den Gebäudereiniger). Dieser räumliche Aspekt der Leistungserbringung ist vermutlich der größte Unterschied zwischen einer entsprechenden Handwerksbranche und einem „normalen“ Industriebetrieb. Bei anderen Handwerksbranchen ist der Übergang fließender (bspw. bei einem Autolackierbetrieb oder der Polsterei/Sattlerei).

Aus diesen Aspekten ergibt sich auch der sehr viel direktere Bezug des Leistungserbringers zum Kunden, ebenso wie der Wertstrom oft stark auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten wird. Daraus resultiert auch der direktere Einfluss des Einzelnen auf die Kundenzufriedenheit und eine enge Kopplung des Feedbacks des Kunden.

Reflektiert man diese Charakteristika der Handwerksleistungen, fällt es sehr leicht, darin die Lean Prinzipien wieder zu erkennen, wie sie schon von 25 Jahren von Womack und Jones in ihrem Lean Klassiker definiert wurden.

Damit liegt es meines Erachtens auch auf der Hand, dass Lean Prinzipien auch im Handwerk zum Einsatz kommen können. Verstärkt wird diese Einsicht in meinen Augen, wenn man berücksichtigt, dass Toyota seinen Ursprung in einer handwerklich geprägten Gegend Japans hat.

Woher rühren dann die Vorbehalte, denen Lean Management im Handwerk begegnet und wie können diese Vorbehalte und die daraus resultierenden Widerstände überwunden werden?

Eine Ursache ist sicherlich die Serienproduktion der Automobilindustrie und das Bild, das dadurch in der Öffentlichkeit entstanden ist. Das Fließband und die damit verbundenen Arbeitsweisen haben sicher ihr übriges getan, was durch Szenen in Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ und dem zugrundeliegenden Taylorismus zum Ausdruck kommt und verstärkt wurde.

Ebenso hat der Abbau von Arbeitsplätzen in den 1990er und den Folgejahren durch die Produktivitätssteigerungen mittels Lean Methoden im kollektiven Bewusstsein der Menschen seine Spuren hinterlassen, selbst wenn diese Phase selbst gar nicht (bewusst) erlebt wurde.

In meinen Augen ist es nur möglich Vorbehalte abzubauen, indem diese aktiv angesprochen und die Bedenken ernstgenommen werden und gleichzeitig das entstandene falsche Bild korrigiert wird. Leider passiert dies nicht über Nacht und es ist gleichzeitig schwierig, eine Erfolgsprognose zu geben, inwieweit diese Korrektur gelingt. Was jedoch mit Sicherheit vorhergesagt werden kann, ist das Misslingen, wenn erst gar keine Bestrebungen gemacht werden.

Wie schon beim Einsatz von Lean Management in Nicht-Automobil-Industrien gilt es auch bei der Übertragung ins Handwerk, dass die bloße 1:1-Übertragung von Werkzeugen und Methoden aus einem Unternehmen in ein anderes nicht funktioniert und meist zum Scheitern verurteilt sein wird. Die zugrundeliegenden Prinzipien, wie die Verkürzung der Durchlaufzeit als primärem Maß der Kundenzufriedenheit, die resultierende Vermeidung von Verschwendungen in allen Tätigkeiten, die nicht zur Wertschöpfung für den Kunden beitragen, gelten auch in Handwerksbranchen und bieten einen Einstieg.

Durch die oft dezentrale Leistungserbringung vor Ort beim Kunden kommt den einzelnen Mitarbeitern und den Führungskräften vor Ort eine noch größere Bedeutung zu, als dies in klassischen Industriebetrieben der Fall ist. Nicht gelten lassen will ich dabei die oft geäußerten Zweifel an den intellektuellen Fähigkeiten der Menschen vor Ort, die dort die Leistung erbringen. Auch hier sehe ich keinen wirklichen Unterschied zwischen einem Industrie- und einem Handwerksbetrieb. Die gemeinsame Hürde ist dabei die Einstellung der Führungskräfte gegenüber ihren Mitarbeitern,  welche es letztlich zu entwickeln gilt, um an der Entwicklung aller Mitarbeiter mitzuwirken und diese zu befähigen, die eigenen Tätigkeiten zu optimieren.



Kommentare

Andreas Kopp
Andreas Kopp, am 10. August 2022 um 13:33 Uhr
Ein wichtiger Kommentar zu "Losgröße 1":

Es ist richtig, dass jeder Auftrag eines Kunden - z.B. eine Reparatur vor Ort beim Kunden - einzigartig ist.
Aber wenn man einen solchen Auftrag in seine Teilprozesse aufteilt, dann sieht man schnell, dass bestimmte Arbeiten in (fast) jedem Auftrag wieder auftauchen.
Gerade die vor- und nachbereitenden Tätigkeiten, wie z.B. Anfahrt, Bereitstellung von Werkzeug und Material am Arbeitsplatz, zwischenzeitliches Sägen, Bohren, Schneiden draußen am/im Einsatzfahrzeug und das anschließende Räumen der Baustelle, das Verstauen der Materialien im Auto und das oft noch mühselige Erstellen der Nachweiszettel...
Später müssen die aus dem Auto entnommenen Ersatzteile wieder aufgefüllt werden usw. usw.
Genau in diesen, im Handwerk immer wiederkehrenden Tätigkeiten steckt aus Lean-Sicht unglaublich viel Verschwendung! Insbesondere, wenn zwei oder mehrere Personen zu einer Baustelle fahren und nicht geregelt ist, wer was tut!
Standardisierte Abläufe, bessere und einheitliche Aufbewahrungs- und Transportmöglichkeiten, digitale Nachweiszettel etc.pp...

Also: "Losgröße 1" ist kein Argument gegen Lean! Im Gegenteil - insbesondere hier liegt das Potential!

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