Die Prinzipien von Toyota im Impfzentrum Neuss angewendet – alle 15 Sekunden wird jetzt geimpft!
Impfen rettet Menschenleben. Schnelleres Impfen rettet noch mehr Menschenleben. Impfen im Impfzentrum ist ein Prozess, der große Ähnlichkeit zu denen in Fabriken hat. Und diese Prozesse können mit dem Ansatz von Lean Production verbessert werden. Deshalb habe ich meine unentgeltliche Hilfe verschiedenen Kreisen, Kommunen und Ministerien angeboten. Nach vielen Absagen und viel vergeblicher Überzeugungsarbeit hat sich schließlich das Impfzentrum in Neuss bereit erklärt, sich helfen zu lassen. Ausgerechnet dasjenige in meinem Heimatkreis.
Dieses Impfzentrum Neuss ist nicht groß, in den letzten Wochen aber furchtbar schnell geworden - im Mittel findet heute in jeder der 8 Impfkabinen alle 2:10 Minuten eine Impfung statt – mehr als doppelt so viel, wie ursprünglich geplant.
Und dies war der Weg dahin:
„Zeige Respekt für die Menschen, sei weich zu ihnen, aber hart zum Prozess.“
Aus dem nichts sind Impfzentren entstanden und intrinsisch motivierte Menschen arbeiten hier bis spät in den Abend und an die Grenze ihrer körperlichen und seelischen Belastbarkeit. Dies verdient uneingeschränkten Respekt. Wer bin ich, dass ich mich hier hinstellen könnte, um zu behaupten: „Ich bin klug und Ihr seid es nicht.“?
„Go to Gemba.“
Weder verstehe ich etwas von Impfstoffaufbereitung, vom Impfen, noch von der begleitenden Dokumentation. Deswegen habe ich viele Stunden in imaginären Kreidekreisen verweilt, um vorurteilslos zu erfassen, wie die Prozesse wirklich ablaufen. Auch habe ich mitgeholfen. Natürlich nicht bei der Impfung selber, aber die Zuweisung der Gäste zu Impfkabinen hat man mir schon zugetraut. Dabei habe ich erlebt, welche Sorgen die Gäste haben und mit welchen Problemen sich die Mitarbeiter auf dem Impf-Shop Floor herumschlagen. Die größte Herausforderung war es, den Impuls zu unterdrücken, nach den Ursachen zu fragen oder gar Ideen zu entwickeln.
„Define & Measure.“
Erst als ich nach vielen, langen Kreidekreistagen und tätiger Mitarbeit das Gefühl hatte, einigermaßen zu verstehen, was hier geschieht, habe ich zur Uhr gegriffen, die Zykluszeiten bestimmt und Wertschöpfungsanteile berechnet - vom Check-In bis in die Impfkabine.
„Versuche einen permanenten Fluss zu erzeugen. Ändere die Prozesse, die dem im Weg stehen.“
Glücklicherweise war das Impfzentrum nach dem Flussprinzip organsiert: in den 8 parallelen Straßen folgt auf die Registrierung sofort das Impfen. Gut für die Gäste – die Durchlaufzeit durch das gesamte Impfzentrum (also bis zum obligatorischen Wartebereich nach der Impfung) betrug durchschnittlich 11 Minuten. Und auch gut für das Vorhaben: denn leicht waren die Dinge zu erkennen, die die Effizienz bremsen. Das medizinische Personal wartete auf zu impfende Personen, die noch im Engpass namens „Registrierung“ festhingen. Und je nach Qualität der Terminorganisation gab es im Impfzentrum entweder Leerlauf oder Warteschlangen bis um den Häuserblock herum. Letzteres zog die Lokalpresse an, wie Motten das Licht. (Können diese Herrschaften nicht auch mal über Positives berichten?). So konnte es also nicht weitergehen.
„Lerne sehen und erzeuge einen Soll-Wertstrom des Impfens.“
Also habe ich mich nicht nur gefragt, was hier wertschöpfend und was Verschwendung ist, sondern habe mit dem Team in Neuss nach Überlastung und Unausgeglichenheit gefahndet. Wie vermeide ich den anstrengenden Stop-and-Go-Verkehr von Menschen im Impfzentrum? Würde es nicht für alle entspannter sein, wenn wir hier einen gleichmäßigen Workload erzeugen könnten?
„Harmonisiere und stabilisiere die Prozesse.“
Dieser Stop-and-Go-Verkehr hatte im Wesentlichen seine Ursachen in fehlenden oder falschen Unterlagen. Verantwortlich hierfür: Die Kassenärztliche Vereinigung, deren Terminplaner dieses Impfzentrum noch nie gesehen haben und auch kein Interesse hatten, dies zu ändern. Man stelle sich vor: Produktionsplaner, die nicht wissen wollen, wie die Abläufe in der Fabrik sind. Darüber kann man sich aufregen und hat dies auch zur Genüge getan. Aber es nützt ja nichts. Also wurden die Unterlagen von jedem, aber auch wirklich jedem überprüft, der zur Impfung kam. Fehlendes (wie z.B. Angaben im Anamnesebogen) wurde in Ruhe ergänzt – und zwar bevor die Gäste das Impfzentrum betraten. Dies war der Durchbruch, denn die Registrierung war auch deshalb der Engpass, weil diese Nacharbeiten zuvor dort stattfanden und zu Langeweile in den Impfkabinen geführt haben.
Gleichzeitig wurden Hilfskräfte von den Stellen mit Überbesetzung – wie im Eingangsbereich – abgezogen und dorthin gebracht, wo sie für den Prozess benötigt werden – nämlich in die Straßen. Dort verliefen immer wieder mal die Gäste auf dem Weg von Registrierung zu Impfkabine verliefen. Das war der Grund, warum Mitarbeiter der Registrierung eine Art Bringservice gemacht haben. Ausgerechnet die, die der Engpass sind! Dies machen nun die Hilfskräfte. Außerdem bringen die Hilfskräfte die Gäste auch schon mal zu anderen Impfkabinen und sorgen dafür, dass die Impfkabinen stets mit zu impfenden Personen „versorgt“ sind. Wartezeiten des medizinischen Personals gehören der Vergangenheit an.
Fazit
Der Lean Manager würde die alles Line Balancing, Eliminierung von Verschwendung an den Engpässen, Standardisierung und Stabilisierung von Arbeitsprozessen nennen. Die Neusser haben dafür keine Worte, weil ich sie nicht benutzt habe. Auch auf die üblichen Zutaten der „Lean-Einführung“ (was für ein furchtbares Wort), also 5S-Workshop, Verschwendungsjagd sowie das unvermeidliche Lego-Spiel für den Mind-Set (noch so ein furchtbares Wort) habe ich verzichtet. Wir haben einfach gemacht!
Das Ergebnis ist in Zahlen belegbar: von 4:00 Minuten pro Impfung und Kabine auf 2:10 Minuten. Alle 17 Sekunden kann eine Person das Impfzentrum verlassen. Die Durchlaufzeit ist nur unwesentlich verlängert, mit 13 Minuten aber noch immer bei sensationell. Und für unsere Kostenrechner: die Kosten für eine Impfung in diesem Impfzentrum liegen nun deutlich unter denen in einer Arztpraxis.
Sie mögen es für ein wenig „strange“ halten: aber als Hobbymusiker höre ich den Stil und den Sound einer Produktion, sobald ich diese betrete. Oftmals Punk – der häufig auch noch unrhythmisch und unharmonisch ist. So auch in diesem Impfzentrum. Und heute? Immer, wenn ich vor Ort in Neuss den konstanten, ruhigen und geradezu heiteren Fluss an Menschen, Informationen und Impfstoffen wahrnehme höre ich das Leitmotiv von Smetanas Moldau.
Die Mitarbeiter auf dem Impf-Shop Floor haben weniger Stress, die Gäste haben weniger Stress und das Management des Impfzentrums hat weniger Stress. Deren tägliche Feuerlöschaktionen sind ruhigen Tagesbesprechungen gewichen.
Es hat Spaß gemacht, dies alles für Sie aufzuschreiben. Jetzt mache mich aber auf dem Weg nach Neuss. Heute werde ich nämlich geimpft und ich freue mich.
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Seit 1996 beschäftige ich mich mit dem Lean-Gedanken und was davon realistisch in unserem Kulturkreis umsetzbar ist. Veränderungen erfordern einen Wandel in der Unternehmenskultur und vor allem in den Köpfen der Mitarbeiter. Längerfristige Erfolge erzielt man nur gemeinsam.
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