Über den Fisch, den Kopf und Zusammenhalt

Über den Fisch, den Kopf und Zusammenhalt

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Dieser berühmte Ausspruch von Helmut Schmidt steht heutzutage stellvertretend für eine sich selbst feiernde Nüchternheit, die sehr häufig im deutschen Management anzutreffen ist.
Der (scheinbar) pure Pragmatismus beherrscht den Denkhorizont, sodass sich die Frage stellt: Geht es wirklich immer nur um den nächsten Schritt? Steht nur das Überleben im Vordergrund? Oder ist da vielleicht noch mehr?

#leanmagazin
13. August 2021 um 04:30 Uhr in LeanMagazin von Mark Lambertz


Nutzen, Funktion und Grenzen von Visionen

Für Lean-Anwender sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein: Vor jeder Maßnahme muss die Frage geklärt sein, wozu eine Veränderung überhaupt durchgeführt werden soll. Genauso wichtig ist dann die Frage, ob die im Veränderungsprozess beteiligten Menschen das übergeordnete Ziel für sich verstanden haben und im Alltag umsetzen wollen.

Eine Vision vermittelt damit den übergeordneten Sinn, warum überhaupt ein bisheriges Arbeitsmuster neugestaltet wird. Dieser Sinn kann eine enorme Sogwirkung erzielen, wenn es gelingt ein gemeinsames Verständnis einer möglichen, gemeinsam erreichbaren Zukunft zu etablieren. Diese besondere Sinn-Qualität erlaubt es einem Team überhaupt an die (gesunden) Grenzen der Leistungsfähigkeit zu gehen und dabei stetig besser zu werden. Durch diese Verbesserung wächst das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten bei einem geteilten Verständnis „was eigentlich um uns herum passiert“.

Diese Einsichten sind nicht nur aus Sicht des Lean-Thinking nachvollziehbar, sondern passen 1:1 zu Ableitungen, die sich aus dem Viable System Model ergeben. Jedes lebensfähige System operiert mit einem „Ethos-Schwamm“, unbenommen ob dies intern per Leitbild formuliert, oder extern durch das tägliche Kundenerleben betrachtet wird: Unternehmen müssten sich permanent die Frage stellen: Wozu ist ‚es’ da? Welche Werte liefert das Unternehmen nach Außen und nach Innen? Was leistet die Organisation und welcher Zweck soll eigentlich erfüllt werden?

Im schlimmsten Fall ist ein Unternehmen nur auf eine Unternehmenskultur des Selbsterhalts ausgerichtet und vergisst dabei, dass das ‚nackte’ Überleben ohnehin zum Repertoire einer nachhaltigen Organisation gehört. Das alleine kann also nicht den Zweck einer Vision im Sinne der Identitätsstiftung erfüllen – und schon gar nicht ein Diffrenzierungsmerkmal im Markt für die Kunden sein.

Da jedoch das pure Überleben oftmals im Mittelpunkt steht, wundert es wohl niemanden, warum im Gallup Zufriedenheitsindex seit Jahren die Anzahl der engagierten Mitarbeiter stagniert bzw. leicht sinkt.  Denn der vielbeschworene Sinn übernimmt somit die Funktion einer Komplexitätsreduktion, weil bestimmte Handlungsoptionen von vorn herein ausgeschlossen und nicht weiterverfolgt werden müssen. Er wirkt als Attraktor, im Sinne eines Anziehungspunkts, der dabei hilft die Fähigkeiten einer Organisation auf ein großes Ziel auszurichten – soweit die Theorie.

„Wer Geld verdient hat recht.“ – Wenn’s denn so einfach wäre …

Falls der Sinn eines Unternehmens allerdings nur im Geld verdienen besteht, werden Menschen auch immer nur so viel leisten, damit sie nicht bestraft werden – außer sie werden mit Geld beworfen, das steigert zumindest in der Akkordarbeit die Leistung (natürlich nicht in unendlichem Maße – JEDES System hat Grenzen!).

Im Bereich der Wissensarbeit ist das aber wesentlich komplizierter. Da hilft die Steigerung des Gehalts nur bedingt, um (gesunde) Bindung oder (gesundes) Engagement zu fördern. Nebenbei bemerkt: Es stellt sich im Jahre 2017 die Frage, welcher Beruf eigentlich nicht mehr der Kategorie ‚Wissensarbeit’ zuzuordnen wäre. Mir fallen zwar einige Berufe ein, in welchen die Veränderungs-Anforderungen einer geringen Dynamik unterliegen, doch ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die „Nicht-Wissens“-Berufe entweder abnehmen, oder schleichend durch die Digitalisierung ersetzt werden.

Somit ist es auch nicht verwunderlich das die „sinngetriebene“ Organisation als eine überlegene Form der Unternehmensentwicklung aufgefasst wird. Es stellt ja auch keine außergewöhnliche Erkenntnis dar, dass eine Gruppe von Menschen, die ein gemeinsam entwickeltes Ziel verfolgt erfolgreicher ist als jene, die nur bedingt in die gleiche Richtung streben.

Falls das abstrakt klingt, so möchte ich auf eine besondere Art von Berufen hinweisen, die ihren Sinn und ihre Vision aus Werten wie schützen, bergen, retten oder verteidigen ableiten:

Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, Polizisten oder Soldaten.

Diese Menschen wissen sehr genau, warum sie ihren Beruf ausüben.

Ich hoffe es wird mit diesem Beispiel deutlich: Diesen Job machen diese Menschen nicht wegen des Geldes. Es gibt eine ‚höhere’ Identität, welche überhaupt zur Ausführung dieser Tätigkeiten motiviert und befähigt. Darin zeigt sich ein allzu menschliches Streben nach persönlicher Bedeutung als Teil einer Gemeinschaft.

Doch jenseits dieser besonderen Berufe fällt es häufig bzgl. des Organisations-Sinns eher mau aus. In der Praxis herrscht das Paradigma des Broterwerbs. Man macht halt was man machen muss, um nicht aufzufallen.

Wie könnte also eine Vision beschaffen sein, um aus dem Hamsterrad auszutreten und die persönlichen Potentiale des Individuums für ein großes Ganzes zu entfalten (und vice versa)?

Eine Vision braucht stets den Kontext – konkret: Geht es z.B. um eine Unternehmens-, Produkt- oder Projekt-Vision? Denn mit dem Kontext sind gewisse Qualitäten verbunden, insbesondere die zeitliche Dimension.

Während eine Unternehmens-Vision einen Zeitrahmen von mindestens 50 Jahren abdecken sollte (besser: 100 Jahre), benötigt die Vision eines klassischen Projekts andere Kriterien um das Potential des Projekts zu erschließen. Somit erhebt die folgende Liste nicht den Anspruch für jeden Kontext vollständig und angemessen zu sein. Es gilt wie immer: Denk selbst.

Die Un-Ultimative Checkliste für Visionen

Ist die Vision …

… qualitativer oder quantitativer Natur? Tendenziell sollte eine Vision eher die qualitativen Merkmale des Kontextes beschreiben.

… so „nobel und tief in der menschlichen Natur verankert“ das sie als Attraktor (Schwerpunkt) dient und nicht nur die Motivierten erreicht, sondern auch die (noch) nicht engagierten Menschen anzieht? *)

… Wie ist der „Schwierigkeits-Grad“ der Vision beschaffen? Ist das implizit enthaltene Ziel leicht zu erreichen? Dann ist es wohl nur eine normale Aufgabe, aber keine Vision. Ist das Ziel unerreichbar? Dann handelt es sich vermutlich um einen Traum, aber keine Vision. Denn nach meinem Dafürhalten repräsentiert eine Vision ein sehr anspruchsvolles Ziel, welches zwar nur sehr schwer, aber doch erreichbar ist.

… leicht zu erinnern? Wer nicht in der Lage ist die jeweilige Vision spontan aus dem Gedächtnis abzurufen, hat wahrscheinlich schlaues Geschwurbel produziert das derart abstrakt ist, dass es nicht des Merkens würdig ist. Eine gute Vision passt aber (wie auch eine gute Mission) auf ein T-Shirt.

Fazit

Auch wenn’s anstrengend ist, so lohnt sich der Aufwand für die Entwicklung einer Vision – besonders in Umfeldern die von Unsicherheit und Unbeständigkeit geprägt sind. Denn mit der Vision geben Sie den Nordstern vor, auf welchen sich dann die strategischen Überlegungen und taktischen Maßnahmen ausrichten können. Und manchmal ist es sehr praktisch sich zu erinnern ‚Wozu’ man sich einst auf die Reise begab.

PS: Das Zitat von Helmut Schmidt wurde von mir bewusst aus dem Kontext gerissen – natürlich hatte HS eine Vision – nur deckte sich diese nicht mit jener von Herbert Wehner. ????

*) Leicht abgewandeltes Zitat von John Boyd aus „Patterns of Conflict“, im Original lautet es: „In other words, what is needed is a vision rooted in human nature so noble, so attractive that it not only attracts the uncommitted and magnifies the spirit and strength of its adherents, but also undermines the dedication and determination of any competitors or adversaries.“



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