Nachhaltigkeitsmanagement hemmt echte Innovationskraft
Auf einmal ist Nachhaltigkeit raus aus der Nische und verdammt attraktiv. Die müden Akteure, die sich seit Jahrzehnten mit mäßigem Erfolg zum Thema engagieren, reiben sich verwundert die Augen: Wo kommen diese mutmaßlich umweltfreundlichen Produkte, die Unternehmen in den letzten Monaten verstärkt auf den Markt werfen, auf einmal her? In welchen Schubladen waren die bisher versteckt? Klar, der Klimawandel ist schuld. Der stand plötzlich unangemeldet vor der Tür. Und Greta. Mit ihr hatte kein Controller gerechnet und wohl auch nicht damit, dass die eigenen Kinder sich um ihre Zukunft sorgen könnten.
Dieser Artikel erschien erstmals in ManagerSeminare, Ausgabe 01/2020
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Das Thunbergsche Zeitalter ist angebrochen, daher darf man sich nicht wundern, dass alles, was auch nur ansatzweise als „nachhaltig“, „bio“ oder „klimaneutral“ gelabelt werden kann, seinen Weg in die Verwertungsmaschine „Markt“ findet, weil es Wertschöpfung verspricht.
Diese Wertschöpfung will dokumentiert, organisiert und kontrolliert werden, daher ist ein Nachhaltigkeitsmanagement mit entsprechenden Indikatoren und Kennzahlen hilfreich. Nachhaltigkeitsmanagementsysteme sind üblicherweise in der Logik des PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act-Cycle; W. E. Deming) gestaltet. Das bedeutet, ganz allgemein gesagt, dass mit ihnen ein IST-Zustand erhoben wird, auf den eine Strategie der kontinuierlichen Verbesserung folgt – meist in jährlichen Zyklen. Oftmals lehnt man sich an zertifizierbare Normen wie z.B. die ISO 14001 (Umweltmanagement) oder OHSAS 18001 (Arbeits- und Gesundheitsschutz) an oder strebt Gütesiegel wie das EMAS-Umweltmanagementsystem der EU an.
Soweit so gut. Nachhaltigkeit bedeutet in dieser Logik: Reduzierung, Verzicht, Effizienz. Auch das scheint auf den ersten Blick gut zu sein, denn der umweltbewusste Mensch wünscht sich sowohl weniger Konsum als auch den Verzicht umweltschädlicher Materialien, wie z.B. Plastik. Effizient darf es natürlich auch sein, denn wer sollte etwas dagegen haben, dass z.B. eine effiziente Produktion für weniger Emissionen sorgt?
Wie immer lohnt an dem Punkt, an dem scheinbar alles gut ist, ein Perspektivwechsel, denn das Nachhaltigkeitsmanagement hat es noch nicht ins 21. Jahrhundert geschafft. Stellen wir uns kurz eine mittelgroße GmbH mit 200 MA vor, Branche Maschinenbau, deren Produktion in den letzten 5 Jahren immer effizienter geworden ist. Die Umweltbilanz ist, wie aus dem jährlichen Nachhaltigkeitsbericht nach GRI-Standard hervorgeht, gut ausgeglichen und man ist sehr stolz auf die sich jährlich reduzierenden Zahlen. Dieses Unternehmen ist funktional organisiert, die Geschäftsführung besteht aus CEO, CFO und CTO. Das Thema Unternehmensverantwortung wird klassischerweise an die Geschäftsführung gekoppelt und verwaltungstechnisch mit zwei Nachhaltigkeitsbeauftragten ausgestattet. Die KPIs der F&E-Abteilung orientieren sich im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie an der Effizienzsteigerung der bestehenden Produkte, die des Einkaufs an der Kostenreduzierung. Soziales Nachhaltigkeitsmanagement ist der HR-Abteilung zugeordnet. Man bietet familienfreundliche Flexi-Arbeitszeiten und Home-Office an und selbstverständlich gibt es ein betriebliches Gesundheitsmanagement sowie betriebliche Weiterbildungsmöglichkeiten. Fluktuationen sind gering, gut ein Drittel der Mitarbeitenden arbeitet seit 8 Jahren und länger im Unternehmen. Die Reputation bei den mittelbaren Stakeholdern ist gut, die Umsatzzahlen seit ca. 3 Jahren nahezu gleichbleibend, die Geschäftsführung unterstützt mit einem jährlichen, festen Beitrag seit 2 Jahren ein Kinderhospiz in der Region. Das Unternehmen gehört nach aktueller Lesart also „zu den (sehr) Guten“.
Obwohl dieses Unternehmen gefühlt alles richtig macht, ist es nicht nachhaltig im Sinne einer ausgeglichenen und zukunftsorientierten Balance zwischen Ökonomie, Ökologie und Soziales.
Zunächst der Punkt Soziales: Die Unternehmensleitlinien für die Nachhaltigkeitsstrategie im Beispiel oben gab die Geschäftsführung im Rahmen der Corporate Governance aus, die Belegschaft wurde nicht in die Entwicklung einbezogen, sondern durfte sich dem Ergebnis anschließen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass 3 Menschen (CEO, CFO und CTO) bewusst oder unbewusst ausblendeten, dass kollektive Intelligenz und diverse Perspektiven für lernende Unternehmen des 21. Jahrhunderts unverzichtbar für Innovationen sind. Corporate Governance Entscheidungen sickern über das Nachhaltigkeitsmanagement der Nachhaltigkeitsbeauftragten in die Abteilungen und über die gleichen Kanäle wieder zurück. Eine abteilungsübergreifende Kommunikation ist nicht vorgesehen, d.h. klassisches Silodenken wird nicht überwunden und Entscheidungswege nicht verkürzt.
Ökonomie: Die Effizienzausrichtung unseres Unternehmens macht sich im Einkauf bemerkbar, daher importiert man günstige Fertigungsteile aus China. In der F&E-Abteilung hatte letztes Jahr jemand einen alternativen Vorschlag für Fertigungsteile, die in Europa hergestellt werden, deren Komponenten weniger seltene Erden enthalten, aber die sind teurer, d.h. die KPIs des Einkaufs waren gefährdet. Der Verbesserungsvorschlag wurde abgelehnt, obwohl sich auf politischer Ebene Handelskonflikte mit China ankündigen, die auch unser Unternehmen betreffen würden.
Die Ökologie: Das Unternehmen recycelt weder eigene Abfälle noch eigene Produkte oder Komponenten daraus – zirkuläres Denken ist in der Nachhaltigkeitsstrategie nicht vorgesehen. Der Fokus auf inkrementelle Verbesserungsprozesse verstellt dem Nachhaltigkeitsmanagement den Blick auf experimentelles Denken. Regelmäßige Feedbackschleifen zementieren Bestehendes, schaffen aber keinen Raum, um Produkte, externe Prozesse und Systeme anders zu denken.
Sprechen wir über zukunftsfähiges Nachhaltigkeitsmanagement, dann muss dieses sich sowohl agil als auch experimentell aufstellen. Routinebasierte Bereiche können inkrementell an der Effizienz feilen und Kosten reduzieren – ein sensibles Lean Management, das gleichermaßen Effektivität und Effizienz ausbalanciert, kann ein Ansatz sein. In experimentellen Bereichen dürfen die üblichen KPIs keine Rolle spielen, denn Experimente sind risikoreich, d.h. kostenunsicher. D.h. in allen Bereichen ist eine Balance aus Effizienz/Effektivität und Experiment gefragt. Der F&E-Bereich richtet sich sowohl auf die Verbesserung bestehender Produkte als auch auf deren Materialanalyse und Wiederverwendung. Aus welchen Materialien sind Produkte zusammengesetzt? Lassen sich die Komponenten durch nachhaltige Alternativen ersetzen? Sind verbundene Komponenten rückstandsfrei voneinander zu lösen? Wie oft können Materialien recycelt werden?
Der Einkauf muss in der Lage sein, selbstverantwortlich Entscheidungen pro Nachhaltigkeit im Sinn der ganzheitlichen Strategie zu treffen. Das heißt, u. U. auf Rabatte für Großmengen zu verzichten und eine Politik des rücksichtslosen „Preisedrückens“ abzulehnen. Die HR-Abteilung darf experimentelles Handeln dahingehend verstehen, dass man z.B. Teamrecruiting testet und Indikatoren zur Bewerberauswahl neu definiert.
Die Corporate Governance muss dahingehend erweitert werden, dass erstens strategische Überlegungen über den eigenen Unternehmensradius hinausgehen, d.h. sowohl in biologischen als auch in technischen Kreisläufen gedacht wird, in denen Abfall gleichzeitig wieder Roh- oder Nährstoff sein kann. Zweitens braucht es die Intelligenz, die Erfahrungen und die Perspektiven der Vielen und insbesondere der Leisen. Kollektive Kommunikations- und Entscheidungsräume und fallweise andere Organisationsformen, die mehr Partizipation und Verantwortung fördern und damit die Selbstwirksamkeit von Mitarbeiter*innen begünstigen, sind ein guter Schritt in diese Richtung.
Sonst könnte es sein, dass bei der nächsten Entlassungswelle jemand sagt: „Vor 3 Jahren hatten wir eine Praktikantin, die zuhause mit Pilzkulturen für Recyclingprozesse experimentierte. Unsere Geschäftsleitung hat das damals nur belächelt. Dieses Lächeln kostet uns jetzt unsere Arbeitsplätze.“
Noch Zweifel, dass Nachhaltigkeit und Lean zwei kongeniale Partner werden können?
Bis neulich, Daniela
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