"Wenn ich ein Unternehmer sein möchte, muss ich mir ein aufgeklärtes Menschenbild zu eigen machen" – Interview mit Niels Pfläging

"Wenn ich ein Unternehmer sein möchte, muss ich mir ein aufgeklärtes Menschenbild zu eigen machen" – Interview mit Niels Pfläging

"Deswegen ist dm da, aber Schlecker ist nicht mehr da", sagt Niels Pfläging. Der Organisationsforscher, Berater und Aktivist für einen radikalen Humanismus in Unternehmen erklärt im exklusiven Interview mit LeanBase.de, was dm-drogerie markt, die Handelsbanken in Schweden, Toyota, Southwest Airlines, W.L. Gore, Semco, Egon Zehnder International, Aldi oder Buurtzog anders machen - und was es bedeutet, Unternehmer im 21. Jahrhundert zu sein.

#leanmagazin
Podcast, am 24. 09. 2023 in LeanMagazin von LKB Redaktion*)


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Niels, Du giltst als ein kritischer Experte, der sich mit spitzer Zunge und klarer Kante für einen radikalen Humanismus in Unternehmen einsetzt. Jetzt verrate uns, was macht Dich zu einem Experten für dieses Thema?

Was mich sicherlich nicht zu einem Experten für Organisationen gemacht hat, das war mein Studium der BWL.

Hatte Deine spätere Laufbahn als Controller in deutschen Konzernen einen Einfluss?

Eher nicht. Ich denke, zum Experten wurde ich erst, als ich begann, meine Arbeit kritisch zu hinterfragen und mich nach und nach von Management-Mythen befreite.

Was war der Anstoß zu diesem Umdenken?

Den Anstoß gab mein Zweifel an der Unternehmensplanung, der später durch die Arbeit im Beyond Budgeting Round Table, dem ich ab 2003 fünf Jahre lang als Forschungsdirektor vorstand. Das Ziel dieser Denkfabrik war es, Unternehmen von planwirtschaftlichen Strukturen zu befreien. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Von stalinistischen Strukturen zu befreien.

Niels Pfläging ist Unternehmer, Organisationsforscher, Berater und Schöpfer von Organisationswerkzeugen. Bekannt wurde er Anfang der 2000er-Jahre zunächst als Kritiker klassischer Managementmethoden wie der Budgetierung. Später machte er sich als Vordenker dezentraler, demokratischer und radikal unternehmerischer Führungsmodelle einen Namen. Pfläging ist Gründer des internationalen Open-Source-Netzwerks BetaCodex Network. Er ist Mitgründer der Red42 GmbH mit Sitz in Wiesbaden und des Lernanbieters disqourse mit Sitz in Zagreb. Kontakt: niels.pflaeging@redforty2.com

Da ist die spitze Zunge wieder. (lacht) Bevor ich auf diese Wertung näher eingehe, erst einmal die Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort: Was hat Beyond Budgeting Round Table genau gemacht?

Die Beyond Budgeting-Bewegung hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Alternative zu tayloristischen, also bürokratisch-hierarchischen Organisationen zu entwickeln. Dazu gehört das systematische Abrücken von Zielvorgaben, Fremdkontrolle und Mikromanagement. Und natürlich zeigte der Ansatz auch auf, wie es gelingen könnte, die Unternehmensführung von der Planung zu befreien.

Ich verstehe Folgendes nicht, Niels. Unternehmen bewegen sich in der freien Marktwirtschaft. Wie kann man denen stalinistische Strukturen unterstellen?

Die meisten Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden, spätestens aber ab 500 Leuten, sind Bürokratie-Monster. Sie bedienen sich planwirtschaftlicher Steuerung und üben auf ihre Mitarbeitenden Kontrolle und Zwang aus, damit die Zahlen, Pläne, Ziele, Budgets und Regeln eingehalten werden. Wie wirken wohl solche Organisationen auf Menschen?

Verstehe. Sind alle Unternehmen so?

Nicht alle. Aber fast alle. Im Beyond Budgeting Round Table haben wir Fallstudien einiger derjenigen Unternehmen in Europa und Nordamerika erarbeitet, die es anders machten. Das waren ein paar Dutzend. In diesen Ausnahmeunternehmen haben wir die Alternativen zu diesem ganzen Wahnsinn rund um command-and-control, pyramidenhafte Aufbauorganisationen, traditionelle Weisungen, Steuerung von oben und so weiter finden und kategorisieren können.

Und wo seid ihr fündig geworden?

Wir sind auf Handelsbanken in Schweden gestoßen, die seit über 50 Jahren erfolgreichste Bank Europas. Später stießen wir auf dm-drogerie markt, Toyota, Southwest Airlines, W.L.Gore oder Semco. Die Praktiken und Prinzipien dieser und anderer Pionierunternehmen zu durchdringen und zu verstehen, war ein riesiger Durchbruch. Egon Zehnder International ist ein weiteres Beispiel. Aldi und Buurtzorg gehören ebenfalls in diese Riege.

Was machen diese Unternehmen anders?

Wir haben die Organisationsmodelle dieser Unternehmen verglichen und nach Ähnlichkeiten gesucht. Und die waren frappierend, obwohl diese Firmen aus ganz unterschiedlichen Branchen stammen. Wir sind auf eine Reihe von Merkmalen gestoßen, darunter der Umgang mit Leistung und Strukturen, die Sprache, die in diesen Unternehmen herrscht, oder der Umgang mit Ideen.

Insbesondere ein Merkmal war bei allen gleich: das Menschenbild. Und das war radikal anders als bei der überwältigenden Mehrheit der Firmen, die sich durch Planung, Fremdsteuerung, Regeln und Anreize auszeichnen. Das war eine essenzielle Erkenntnis: Mit dem Menschenbild steht und fällt in Organisationen alles. Kurz gesagt: wenn Eigentümer und Manager überzeugt sind, dass Mitarbeitende grundsätzlich faul sind und nicht arbeiten wollen, ist die logische Konsequenz eine tayloristische Organisation, in der Zwang auf einzelne Menschen ausgeübt werden muss. Das Ergebnis ist dann Management per Angst.

Verstehe. Wenn man ein Hammer ist, dann ist alles ein Nagel, den man in die Wand schlagen muss. Ich möchte mal zuspitzen: Sollte ein Unternehmen nicht frei von einem Menschenbild sein? Am Ende des Tages geht es um Umsatz und um Gewinn.

Was macht eine Unternehmerin oder einen Unternehmer aus, Kamuran? Es ist richtig, dass ein Unternehmen Gewinn machen muss. Gewinn ist für ein Unternehmen aber das, was Sauerstoff und Atmung für den menschlichen Körper sind. Atmen ist nicht ein Ziel, sondern eine Voraussetzung für unser Leben. Profit ist nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung, damit Unternehmen überleben können und handlungsfähig bleiben.

Für das Überleben und die Handlungsfähigkeit sind Menschen im eigenen Unternehmen genauso wichtig wie die Kunden. Wenn Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Führungskräfte glauben, dass die Beschäftigten faul sind und Kunden nur klauen, dann macht mich das für Unternehmensführung ebenso untauglich wie die Mehlallergie den Bäcker untauglich macht.

Wie kann ich mir ein Unternehmen vorstellen, das sowohl gewinnorientiert als auch humanzentriert ist?

Ich möchte Deine Frage präzisieren: Wie sieht ein Unternehmen aus, das gewinnorientiert und im humanistischen Sinn mit der Natur des Menschen im Reinen ist. Ein gutes Beispiel ist dm-drogerie markt, mitbegründet von Götz Werner, der Anfang des Jahres leider verstorben ist. Götz Werner hat sein Unternehmen einem humanistischen Menschenbild folgend komplett auf den Kopf gestellt. Das war Anfang der 1990er-Jahre. Er hat es treffend auf den Punkt gebracht, als er sagte, dass Unternehmertum bedeutet, durch Menschen mit Menschen für Menschen zu handeln. Das ist für auch für mich die Essenz von Unternehmertum. Es gibt im unternehmerischen Denken nichts anderes als den Menschen.

Was hat Götz Werner konkret gemacht? Wie sieht ein Unternehmen konkret aus, in dem Gewinnorientierung und Humanismus miteinander versöhnt wurden?

Jede Organisation verfügt über ein Zentrum und eine Peripherie. In einem humanzentrierten Unternehmen wird die Peripherie mit Macht und Autonomie ausgestattet. Das Zentrum hört auf, steuern zu müssen. Bei dm-drogerie markt wurde 1991 ein ganz konkretes Projekt ausgerufen: Es hieß „Filialen an die Macht“. Da ging es also um die Bemachtung der Peripherie. Die Führungskräfte und Teams der Filialen erhielten die nötigen Freiräume, um selbst die richtigen Entscheidungen für ihr Geschäft treffen zu können. Ohne abwarten zu müssen, bis ein Regionalleiter oder eine „verantwortliche“ Führungsperson sich der Sache annimmt. So wurden aus Befehlsempfängern unternehmerisch- denkende Teams, von denen unternehmerische Impulse erwartet wurden. Eine Erfolgsgeschichte, wie wir alle wissen. Deswegen ist dm da, aber Schlecker ist nicht mehr da.

Wenn die meisten Unternehmen eher tayloristisch ausgelegt sind, wie kann ihnen dieser Wandel gelingen?

Alle reden von Transformation, aber es macht sie bisher keiner. Transformationsprozesse sind knifflig. Sie müssen von einer großen Menge Williger getragen werden. Da reicht Change Management oder ein bisserl Partizipation nicht aus. Unternehmen müssen anders vorgehen: Sie müssen bereit sein, am eigenen Fundament zu rütteln. Transformation ist etwas Fundamentales, da geht es um Glaubenssätze, Prinzipien, Dezentralisierung, Perfomance-Systeme. Also um Grundlegendes wie die Abschaffung von Bonussystemen und Jahresplanung, wenn man die noch hat. Und darum spielen Psychologie und Sozialpsychologie in Transformation eine Rolle, ebenso Philosophie und Soziologe. Systemtheorie ist hilfreich. Es ist auch wichtig, sich mit Sprache in Organisationen zu beschäftigen.

Niels Pfläging schrieb 10 Businessbücher – darunter die Bestseller Führen mit flexiblen Zielen, Organisation für Komplexität und Komplexithoden*. Sein neuestes Buch heisst Kaputtoptimieren und Totverbessern*.

Stellt sich für mich die Frage, wie es Unternehmen gelingen soll, am eigenen Fundament zu rütteln.

Genau darum geht es in meinen Büchern und sehr konkret im Ansatz "OpenSpace Beta", den meine Kollegin Silke Hermann und ich 2018 entwickelt haben. Mit diesem Ansatz kann jedes Unternehmen sich in nur 90 Tagen zu einer selbstorganisierten und dezentralen Organisation transformieren, also zu einer Beta-Organisation werden. In nur 90 Tagen, zusammen mit allen Willigen. Garantiert.

Am 90. Tag soll ein Unternehmen seine Transformation abgeschlossen haben?

Jein! Aber am 90. Tag ist eine Menge getan, sodass alle sagen: Jetzt machen wir fast alles anders. Aber eigentlich ist es noch besser: Das Unternehmen verändert sich durch Arbeit am System bereits am allerersten Tag der 90 Tage. Am Zweiten verändert es sich ein wenig mehr, durch weitere Arbeit am System. Am Dritten wieder. Und so geht es weiter.

Zum Verständnis dieser Vorgehensweise hilft ein Blick in unsere eigene Geschichte: War Deutschland einen Tag nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine waschechte Demokratie? Nein. Aber da passierten wesentliche Veränderungen im System. Waren da alle Deutschen waschechte Demokraten?

Nein. Aber mit jedem Tag, mit jeder Intervention ist Deutschland zu der Demokratie geworden, die es heute ist. Das bedeutet auch, dass wir niemals aufhören dürfen, am System zu arbeiten, weil ein solcher Prozess kein Ende kennt. Andererseits sind wichtige Weichenstellungen irgendwann getan. Wichtig bei dieser Transformation ist, dass wir am System und nicht am Menschen arbeiten. Menschen sind extrem anpassungsfähig. Ändert sich das System, passen Menschen sich an.

Ich stelle mir gerade vor, wie Ihr Euren Ansatz beim Volkswagen anwendet. Dort arbeiten rund 200.000 Menschen, auch noch rund um den Globus verteilt. Wie soll das funktionieren?

Es ist nicht schwerer als mit 300 Personen, also einem Prozent davon. Grundsätzlich ist Freiwilligkeit wichtig. Alle Akteure, die in den 90 Tagen am System des Unternehmens arbeiten, kommen auf eine Einladung hin, nicht auf Anordnung von oben. Entscheidend ist auch, dass alle, die dafür zusammenkommen, durch ihr Erscheinen zu Beginn automatisch autorisiert werden. Die Ergebnisse, die in den 90 Tagen erzielt werden, sind verbindlich, werden aber zum Abschluss gemeinsam unter die Lupe genommen. Ein transnationales Unternehmen wie Volkswagen kann diesen Ansatz ebenso durchführen wie ein Mittelständler mit nur 3.000 Personen. Die Größe ist kein Hindernis, ja nicht einmal eine Erschwernis. Nicht zuletzt könnte man in einem Konzern wie diesem auch einzelne Einheiten oder Konzernunternehmen separat voneinander transformieren.

Was genau passiert am Tag 90?

Am 90. Tag kommen alle Beteiligten zusammen und schauen sich an, was sie gemeinsam erreicht haben. Sie nehmen eine umfassende, schonungslose Retrospektive des Erreichten vor. Das bedeutet nicht, dass alles vorbei wäre. Nach den 90 Tagen gibt es eine Art Verschnaufpause. Wir nennen diese Phase Resonanzzeit. Hier haben alle Beteiligten Gelegenheit, alles Erlebte und alle Ergebnisse sacken zu lassen. Im Gaming nennt man diesen Moment das "Level-Up", also den Punkt, an dem man auf die nächste Schwierigkeitsstufe gelangt. Nach dieser Phase, die 30 Tage dauert, kann man den gesamten Prozess erneut beginnen, wenn gewünscht. Transformation hört niemals ganz auf.

 

Niels, ich danke Dir für das interessante Gespräch!

Einen spannenden Impulsvortrag von Niels Pfläging zu "Work the System. Wie der Traum vom Lean-Unternehmen endlich Wirklichkeit werden kann." gibt es hier.

*) Mit der Erstellung dieses Textes wurde von uns das futureorg institut beauftragt, welches wiederum Herrn Kamuran Sezer hiermit beauftragt hat.

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Kommentare

Andreas Kopp
Andreas Kopp, am 11. 08. 2022
Ich begleite Selbständige auf dem Weg zum Unternehmer und ich begleite kleine Unternehmen im Wachstum.

Eine der wichtigsten und immer wieder zitierten Aufgaben des Unternehmers ist die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Dabei geht es darum über den Tellerrand zu schauen, zu lernen, zu schauen was andere tun. Für die meisten bedeutet das aber sich selbst im Fachwissen breiter aufzustellen. Also Persönlichkeitsentwicklung = Fachwissenaufbau...
Was es aber wirklich bedeutet, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, das verstehen tatsächlich die wenigsten - und scheitern kläglich.

Einige wenige entwicklen sich tatsächlich zu Leadern, die es verstehen dem System Unternehmen von der Basis bis in die Führungsspitze eine Kultur und ein Gesicht zu geben. Identifikation, Motivation, Selbstorganisation und Eigenverantwortung sind hier wichtige Stichpunkte.

Die meisten aber erheben sich mit einem selbsterrichten Turm immer höher über die Mitarbeiter hinaus, beanspruchen ein "Allwissensmonopol" und entfernen sich dabei immer weiter vom Verständnis fürs Unternehmen und für die Mitarbeiter. Der Allwissende gibt vor, der Rest arbeitet!
Also - Pustekuchen mit Persönlichkeitsentwicklung!

Und es stimmt tatsächlich, dass die entgültige Richtungsenscheidung ab einer Unternehmensgröße irgendwo spätestens ab 50 Mitarbeitern fällt.
Eine ganz natürliche Größe, denn irgendwo da ist man nicht mehr in der Lage selbst das Unternehmen in allen Details im Griff zu haben - man spürt, dass man nicht mehr allwissend ist. Und dann entsteht das command-and-control-Monstrum...

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