Das Transformationsversprechen der Lean-Bewegung liesse sich einlösen. Aber wollen wir das auch?
In den letzten vier Jahrzehnten haben eine Reihe von Trends hoffnungsvolle, konstruktive Impulse für Wirtschaft und Zusammenarbeit geliefert. Zuletzt war dies Agile, davor waren es TQM/Qualität und Lean – um nur die drei der bedeutsamsten Bewegungen der letzten 40 Jahre zu nennen. Diese Trends deuteten zwar in die richtige Richtung (zumindest anfänglich), konnten ihr Wirkpotenzial jedoch letztlich nicht entfalten. In diesem Artikel argumentiere ich, dass der blinde Fleck all dieser Bewegungen stets darin bestand, den Stellenwert geeigneter Change- bzw. Transformationsansätze verkannt zu haben. Das Problem: Ohne einen Transformationsansatz wirken Agile & Co. mehr wie Traubenzucker. Sie liefern kurze Energieschübe, gefolgt von schneller Rückkehr zum Urzustand.
Interventionen innerhalb von bürokratisch-steuernden Systemen liefern zwar oft kurzfristig beobachtbare Effekte, für sich genommen sind sie aber nicht in der Lage, auf ein System als Ganzes auszustrahlen. Unterbleiben aber die eigentlich notwendigen Impulse dazu, "die Kultur aus den Angeln zu heben", dann findet eine dauerhafte oder tiefgreifende Transformation der Wertschöpfung auch nicht statt. Und damit unterbleibt eine dauerhaft hohe Wirksamkeit in der Praxis. Anders gesagt: Zertifizierungen, lokale Experimente und Teaminterventionen können echte Arbeit am System langfristig nicht ersetzen.
Werfen wir noch einen Blick auf die Geschichte der Lean-, TQM- und Agile-Bewegungen. Alle drei Trends nahmen innerhalb einiger Jahre auch außerhalb ihrer ursprünglichen Nischen deutlich an Fahrt auf: Sie industrialisierten sich. Das heisst: Immer mehr Qualitäter, Leaner, Agilisten bestritten ihren Lebensunterhalt mit und in ihren jeweiligen Themenfeldern - ohne jedoch jemals an echter Transformation bzw. an den Systemen ihrer Klientenorganisationen zu arbeiten. Stattdessen wurden Zertifizierung, Trainings, dauerhafte Kleingruppenbetreuung, Messung, technisch-analytische Methoden und Softwaretools zu den dominanten Geschäftsmodellen innerhalb dieser Bewegungen. Statt der eigentlichen, sozusagen "real-vollumfänglichen" Transformationen von Unternehmen, Not-for-Profits und Verwaltungsorganisationen.
Das Problem: Ohne die Transformation ganzer Organisationen können sich weder TQM, noch Lean, noch Agilität vollständig entfalten. Denn diese drei Konzepte erfordern ein höheres Maß an Dezentralität, funktionaler Integration und teambasierter Selbststeuerung, als dies in heutigen Organisationen üblich ist. So ergibt sich einerseits das Bild einer erfolgreichen, vitalen Bewegung mit zahlreichen, wirtschaftlich erfolgreichen Akteuren und Mitgliedern. Andererseits befinden sich diese Akteure immer mehr in einem Dilemma, da sie die hohen Erwartungen ohne Transformationserfolge in der Praxis nicht einlösen können.
Reformer in der Zwickmühle
Ich habe das Dilemma solcher Situationen selbst schmerzhaft erfahren müssen. Als ich im Jahr 2003 offiziell zum Beyond Budgeting Round Table stiess, als fünfter Forschungsdirektor der 1998 gegründeten Bewegung, da war das Beyond Budgeting-Modell (heute: Der BetaCodex) bereits fertig entwickelt: Der Ansatz mit seinen 12 Prinzipien stand weitgehend fest; es gab mehr als 20 gut untersuchte Fallbeispiele; wir verfügten über eine Community, die unsere Forschung unterstützte – ideell wie auch finanziell. Damals wussten wir bereits, wie Beyond Budgeting als Modell funktionierte und was es ausmachte. Das einzige, was nun noch fehlte, war Transformation in der Praxis. Also Unternehmen, die sich das Beyond Budgeting-Modell durch die Arbeit der Community befördert aneigneten. Auch im siebten, achten, neunten Jahr der Bewegung gab es solche Fallbeispiele noch nicht - trotz grossen inhaltlichen Engagements der Direktoren und des lebhaften Interesses der Community. Inzwischen war es 2007.
Das bereitete einigen von uns aus dem Kreis der Forschungsdirektoren Bauchschmerzen. Anderen in unserem Team jedoch nicht: Denn es ging uns, oder zumindest den meisten von uns, wirtschaftlich ganz gut – dank Einkünften aus Vorträgen und Trainings, sowie durch Einkommen aus den Mitgliedsbeiträgen der zahlenden Community. Wirtschaftlich standen wir also recht gut da. Wir alle hätten zudem die Möglichkeit gehabt, unser Geschäft mit Vorträgen, Trainings, Tools und Community weiter auszuschöpfen und zu skalieren, oder vielleicht noch das eine oder andere Tool oder Produkt zu entwickeln. Diagnostik- und Prognosetools, waren naheliegende Ideen hierzu.
Die andere Alternative: Wir konnten uns der Herausforderung stellen, um die in den Augen jener von uns, die Bauchschmerzen hatten, eigentlich gehen musste: Wir mussten endlich die Transformation realer Organisationen meistern, so wie es zuvor schon Pioniere (und Genies) der Organisationsgestaltung wie Mary Parker Follett, Kurt Lewin, Eric Trist und Douglas McGregor versucht hatten. Dies würde ein mühsamer Weg sein, so viel war klar. Denn wir hatten bereits mit dem noch neuen "Leading Change"-Ansatz von John Kotter experimentiert und dabei nicht nur ermutigende Erfahrungen gesammelt. Für uns im Jahr 2006 hätte eine Hinwendung zu konsequenter Transformationsarbeit mit einer Veränderung unseres Diskurses und unseres Geschäftsmodells einher gehen müssen. Wie sich zeigte, entschied sich ein Teil unserer Direktorengruppe, sich dieser Mühe nicht zu unterwerfen.
Zur derzeitigen Lage in der Agilen Bewegung
Klar: In der Lean-Bewegung gab es in den 1990er und 2000er-Jahren vergleichbare Muster. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich seit einigen Jahren in der Agilen Bewegung. Sie ist inzwischen ein Milliarden-Euro-Geschäft, und damit ausgesprochen stark industrialisiert. Trotz gegenteiliger Behauptungen bringt diese Bewegung weltweit keinerlei Unternehmens- oder auch nur Bereichstransformationen hervor, die den Namen verdient hätten. Das kann auch nicht verwundern. Denn in der Szene sind dies die dominanten Geschäftsmodelle und Einkommensquellen der Agilisten:
- Zertifizierung/Training,
- Gruppenbetreuung (oft als Agile Coaching bezeichnet),
- Softwaretools für die Unterstützung agiler Teams und Arbeit (z.B. von Anbietern wie Atlassian) und
- technokratische Tools und die dazugehörigen Implementierungsprojekte (z.B. rund um Skalierung).
Aus keinem dieser Geschäftsmodelle kann Agile Transformation erwachsen. Daran ändern auch beste Absichten, Appelle an den "Agilen Mindset" und Beteuerungen des Gegenteils nichts.
Nun liegt es mir fern, Agilisten schädliche Motive unterstellen zu wollen. Ich unterstelle allen Agilisten beste Absichten. Ich bin der Überzeugung, dass viele, wenn nicht sogar fast alle, die sich in diesem Bereich tummeln, ernsthaft glauben, dass sie einen Beitrag zur Grossen Agilisierung der Welt leisten. Inzwischen gibt es nicht Wenige, die Scrum in die Schulen tragen wollen, weil sie glauben, agile Ansätze würden auch und gerade dort gebraucht. Es mangelt also in der Agilen Bewegung nicht an missionarischem Eifer. Das Problem: Existierende Systeme wie Unternehmen oder das Bildungssystem verändert man nicht durch Zertifizierung, Training, Coaching, Tools und Betreuung. Beschränkt man sich auf Leistungen oder Produkte dieser Art (was ökonomisch kurzfristig durchaus Sinn ergeben kann), dann bleibt es langfristig immer bei der Symptombetreuung, es kommt aber nicht zur Lösung der darunter liegenden Probleme oder Schlamassel.
Mehr noch: Werden solche Leistungen immer weiter industrialisiert und massenhaft angeboten, dann erzwingt diese ökonomische Ausweitung der Bewegung eine sich ins Unendliche steigernde Wirksamkeitsbehauptung. Es bildet sich eine Art Agile Blase. Genau dieser Effekt lässt sich in der Agile-Szene seit rund fünf bis zehn Jahren beobachten. Dieselbe Blasenbildung vollzog sich in den 1990er-Jahren in der Lean-Bewegung, gefolgt von einem dramatischen, schockhaften Niedergang.
Arbeit im System bringt niemals Transformation hervor
Bei meiner Arbeit im Beyond Budgeting Round Table vor rund 15 Jahren musste ich durch einige schmerzhafte Niederlagen lernen: Es gibt einen beachtlichen Unterschied zwischen Arbeit im System und Arbeit am System: Beide sind wichtig und bedeutsam. Den Unterschied zwischen Systemoptimierung und Systemüberwindung bemerkt man jedoch daran, dass man bei der Arbeit im System Leistungen, Produkte oder Zeit verkauft. Bei Arbeit am System dagegen muss man Mandate erringen. Letzteres mag kurzfristig mühsamer sein. Schon Kurt Lewin (1890-1947) wusste jedoch: Es ist leichter und wirksamer, ganze Organisationssysteme zu verändern als den einzelnen Menschen in einer vorhandenen Systemumgebung. Waschechte Transformationsansätze wie OpenSpace Beta berücksichtigen diese fundamentale Einsicht.
Ohne Transformation, die ganze Systeme erfasst, kratzen wir mit zeitgemässen Ansätzen wie Agile, Lean und Co. nur an der Oberfläche. Ohne Systemüberwindungen können sie nur einen winzigen Bruchteil der eigentlichen Wirkmacht entfalten - wenn überhaupt. Die Ausrichtung unserer Geschäftsmodelle als "Reformer" oder externe Begleiter (im weitesten Sinne) sollte daher stets auf die Transformation ganzer Systeme von Organisationen abzielen. Das bedeutet: Jeder vergütete Auftrag sollte Systemüberwindung zum Ziel haben - nicht Systemoptimierung! Auch wenn es sich oberflächlich gesehen “nur” um einen Workshop oder ein Konzeptgespräch zu handeln scheint - um ein Lernwerkzeug, eine Diagnostik oder ein Coaching.
***
Mehr zum Thema dieses Artikels findest du im Buch OpenSpace Beta von Silke Hermann und Niels Pfläging
Vahlen Verlag 2019), Paperback, 146 Seiten, EUR 14,90. Mit Poster
Über den Autor: Niels Pfläging ist Unternehmer, Organisationsforscher, Berater und Schöpfer von Organisationswerkzeugen. Bekannt wurde er Anfang der 2000er-Jahre zunächst als Kritiker klassischer Managementmethoden wie der Budgetierung, später als Vordenker neuer, dezentraler, demokratischer und radikal unternehmerischer Führungsmodelle. Pfläging ist Gründer des internationalen Open-Source-Netzwerks BetaCodex Network und Mitgründer der Red42 GmbH. Fünf Jahre lang war er Direktor des Beyond Budgeting Round Table BBRT. Pfläging ist Autor von 12 Businessbüchern, darunter den Bestsellern Organisation für Komplexität und Komplexithoden. Kontakt: niels.pflaeging@redforty2.com
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Dr. Markus Schmotz
Markus ist ein Agile-Lean Catalyst, der es hervorragend versteht, Führung, systemische Selbstreflexion und Wertschöpfung für außergewöhnliche Ergebnisse zu kombinieren. Mit 15 Jahren Erfahrung in Agilen und Lean Umgebungen hat er seine Expertise in den Bereichen F&E, Programm- und Projektmanagement, System Engineering, Agile Coaching, Lean Management und Operational Excellence unter Beweis...
Thomas Michl
Über zehn Jahre war ich in der öffentlichen Verwaltung, u.a. als Kulturamtsleiter, als Fachbeauftragter für Bürgerschaftliches Engagement tätig. Mitte 2018 habe ich mich entschieden, andere auf ihrer Reise durch die agile Welt zu begleiten und unterstützen. Seither arbeite ich als Agile Coach, Veränderungsbegleiter und Organisationsscout für ein Beratungsunternehmen. Als überzeugter Agilist,...
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