Shopfloor: Frauen, die unauthentischen Fachkräfte?
Der Wissenschaftlerin Pınar Kaygan ist dreifach eine überraschende Studie gelungen: Ihre Arbeit zu Frauen als Führungskräfte im Shopfloor beleuchtet ein bisher wenig erforschtes Arbeitsfeld. Den Anstoß dafür haben ihre Erfahrungen als Industriedesignerin in der türkischen Industrie gegeben. Dadurch hat sie eine andere Perspektive auf das Thema, die durch ihre Aufenthalte in Großbritannien und Dänemark erweitert wurden. Nun konnte sie nämlich vergleichen. In manchen Ländern in Europa ist die Ungleichheit zwischen Geschlechtern zwar weniger auffällig als in ihrer türkischen Heimat. Trotzdem sind die Herausforderungen, denen Frauen im Bereich in den sogenannten MINT-Berufen begegnen, fast überall gleich. "Sie sind eng mit der männlichen Kultur der Technik verbunden, die in gewissem Maße global ist", betont Pınar im Gespräch mit uns.
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Geschlechterrollen in MINT
MINT, damit sind Mathematik, Ingenieurswissenschaft, Naturwissenschaften und Technik gemeint. Mehr als ein Viertel der in Deutschland Beschäftigten sind in diesen Bereichen tätig. Davon sind nur 15,4 Prozent Frauen. Was ist der Grund für diesen enttäuschenden Zustand? „Dieser geringe Prozentsatz ist nicht mit der Unzugänglichkeit oder dem Desinteresse der Frauen zu erklären“, erklärt Pınar. Stattdessen habe es „mit der vorherrschenden männlichen Kultur zu tun, die den Frauen das Gefühl vermittelt, sie seien in MINT-Berufen unauthentisch.“
Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, wird bereits im Kindesalter vermittelt. Etwa durch Werbebotschaften, die Geschlechterstereotype vermitteln. Jungs werden mit Werkzeugen und Baumaschinen abgebildet, Mädchen mit Puppen. Dies verursacht, dass Kinder in jene Strukturen hineinwachsen, mit denen sie als Erwachsene im Berufsleben zu kämpfen haben. Das kann nur vermieden werden, wenn die Gesellschaft solche Geschlechternormen und ihre Auswirkungen auf die Entscheidungen der Kinder stärker reflektiert. Heißt: Die Frauen sind sich darüber bewusst, dass sie keinen „Geschlechts-authentischen“ Berufsweg einschlagen und daher mit Steinen und Hindernissen auf diesem Weg rechnen müssen.
Die Brücke von Studium zu Beruf
Es gibt auch Entwicklungen, die Hoffnung machen. Der Frauenanteil in MINT-Studiengängen liegt an deutschen Hochschulen bei 29,3 Prozent und ist damit so hoch wie nie zuvor. Die Beweggründe sind verschieden, gibt Dr. Nilgün Dağlar-Sezer zu bedenken. Sie ist Koordinatorin im Projekt MINT@UniPB an der Universität Paderborn. Aus eigenen Erhebungen und Befragungen weiß sie, dass die Motive ein MINT-Fach zu studieren, zwischen Männern und Frauen sich unterscheiden. So möchten Frauen in MINT-Studiengängen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. "Sie optimieren etwa eine Autokarosserie nicht des Produkts willen", erklärt Nilgün, "sondern weil sie dadurch das Fahren sicherer und effizienter machen".
Pınars Studie schlägt in diese Kerbe, zeigt allerdings die Perspektive der Männer auf. Die Erwartungen an solche Berufe, die von technischen Fähigkeiten und Kompetenzen geprägt sind, werden eher mit Männern und Männlichkeit in Verbindung gebracht. Sie meint damit die Hingabe an die Technik und an das Produkt. "Der Anspruch der Frauen wird in vielen Betrieben nicht kommuniziert", ergänzt Nilgün. Da die damit verbundene Vielfalt in den Betrieben oft nicht wahrgenommen wird, können viele Frauen den Beruf gar nicht erst ergreifen.
Claudia Schmidt, selbstständige Business Coachin und Expertin im Bereich Shopfloor, knüpft genau daran an. Sie erinnert, wie wichtig es ist, in Unternehmen die Stärken und Talente jedes Mitglieds effizient einzubringen. Dies gilt im Besonderen für Führungsaufgaben: "Das verstaubte Bild von einer weißen, männlichen Führungskraft in Anzug und Krawatte ist obsolet. Wir sind alle unterschiedlich und das ist gut so", führt Claudia im strengen Ton deutlich an. Sie fordert von Verantwortlichen in den Industriebetrieben, "ganz bewusst ihren Blick zu erweitern, festgefahrene Denkmuster zu hinterfragen und gezielt Diversität im Team zu fordern und zu fördern".
Karriere oder Familie
"Das Bild des professionellen Arbeitnehmers ist von einer männlichen Lebensnorm geprägt", führt Pınar an. Es wird erwartet, dass die Beschäftigten den ganzen Tag im Unternehmen tätig sind, sich ausschließlich auf die Arbeit fokussieren, und wenige bis gar keine Verpflichtungen außerhalb des Arbeitslebens haben. Und das ist ein Problem, wenn es gilt, Frauen stärker für Führungspositionen zu motivieren. Die türkische Wissenschaftlerin, die gerade an der dänischen Syddansk Universitität als Gastprofessorin tätig ist, weist auf die traditionell-historisch ungerecht aufgeteilten Familienpflichten hin. In den Medien diskutieren die Expert:innen dieses Problem unter dem Begriff "Care-Zeit", die Zulasten der Frauen gehen. Dies verhindere Frauen häufig, gleich stark wie ihre männlichen Kollegen aufzusteigen.
Auch Claudia ist sich diesem Problem bewusst, wodurch Frauen sich beruflich einschränken würden. Sie wehrt sich jedoch gegen diese traditionelle Erwartung. "Ich selbst konnte mir nicht vorstellen und bin auch heute nicht bereit, beruflich Abstriche zu machen, 'nur' weil ich Mutter bin. Gleichzeitig möchte ich Zeit für meine Familie haben. Flexibilität ist für mich entscheidend. Ich habe daher den Weg gewählt, der für mich passt." Diese Wahl wird jedoch nicht immer verstanden. Sie bekommt regelmäßig Fragen gestellt, wie sie Businessleben und Familienleben vereinbaren kann. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die gleichen Fragen erhalten hätte, wenn ich ein Mann gewesen wäre", führt Claudia aus.
Konflikte im Shopfloor
Die Herausforderungen, die Frauen überwinden müssen, enden nicht an der Hochschule und am Berufseinstieg, sondern setzen sich entsprechend im Betrieb fort: Pınar berichtet vom Widerstand männlicher Kollegen im Shopfloor gegenüber weiblichen Führungskräften, die nicht maskulin genug sind. Für solche Männer ist klar: Eine Führungsposition kommt nur für diejenigen infrage, die die notwendige „Maskulinität“ aufweisen können. Das ist ein zentrales Ergebnis ihrer Studie. Diese Haltung kann zu Missachtungen von Anweisungen durch die Shopfloor Mitarbeiter und somit zu Verzögerungen in den Projekten führen. Dies ist besonders heikel. Diese weiblichen Führungskräfte riskieren ihren Ruf als kompetente Führungskraft. Viele Frauen wenden sich bei diesem Konflikt nicht an ihre Vorgesetzten. „Sie befürchten, dass es kontraproduktiv sein könnte, das 'Frau-sein' zur Diskussion zu stellen. Daher sehen sie es als ihre Aufgabe, den Widerstand der Männer zu überwinden, und somit ihre Kompetenz als Fachleute zu beweisen“, führt Pınar aus.
Was Frauen machen können
"Frauen entwickeln folglich verschiedene Strategien, die sie im Rollengefüge eines Betriebes gut einordnen lässt", erläutert Nilgün. Zu dieser Erkenntnis ist auch Pınar in ihrer Studie gekommen. In ihren Untersuchungen identifizierte sie zwei Strategien, die Frauen anwenden: Anpassung durch familiäres Auftreten, um eine vertraute Arbeitsumgebung zu schaffen. Und Abgrenzung, indem sie Eigenschaften der „stereotypischen Frau“ ablegen.
Ergänzend zu diesen Strategien, betont Claudia, wie wichtig es ist, sich selbst kennenzulernen. "Der erste Schritt ist es, sich seiner Stärken und Triggerpunkte bewusst zu werden", empfiehlt sie. "Und dann gilt es, sich zu trauen. Viele passen sich an, doch das führt weder zu einer Veränderung und Weiterentwicklung der Organisation noch macht es die Einzelne langfristig glücklich." Wichtig ist, dass sich weibliche Führungskräfte "als Frau und Führungskraft" sichtbarer machen sollen. Das heißt "sowohl verbal als auch körperlich selbstbewusst Raum einnehmen und das stereotypische 'sich klein machen' abstellen." Weiterhin legt sie großen Wert auf die korrekte Kommunikationsstrategie: "Klar kommunizieren und auch mal schweigen", um so der eigenen Aussage und der führenden Kompetenz Nachdruck zu verleihen.
Was Unternehmen und Lean Management leisten können
Im Alltag sind geschlechtsspezifische Probleme oft weniger auffällig. Mangelnde Akzeptanz wird vielmehr in Formen von Mikroaggressionen geäußert, die nur für das weibliche Auge wahrnehmbar sind. Daher ist es wichtig, die Erfahrungen von Frauen genauer zu betrachten und ernst zu nehmen, beleuchtet Pınar. Diese Erfahrungen sollten auch von der nächsthöheren Führungskraft ernst genommen werden, ergänzt Claudia, die selbst langjährige Erfahrungen im Management sammelte. Mangelnde Intervention des höheren Managements ist der wichtigste Kündigungsgrund für weibliche Führungskräfte: "Mein Wunsch ist es, dass Unternehmen sowohl die Frauen selbst als auch die bestehenden Führungskräfte durch Coaching und Mentoring unterstützen."
Claudia ist sogar überzeugt, dass Lean Management potenziell hilfreiche Methoden anbietet. Es ermöglicht Transparenz innerhalb eines Betriebes. Auf diese Weise können Probleme leicht erkannt und als Team behoben werden. "Es geht um ein gemeinsames Lernen und Zusammenwachsen", fügt sie hinzu. So müssen sich Frauen die Akzeptanz nicht allein erkämpfen, sondern werden optimal unterstützt. Pınar macht auf die Bedeutung der Arbeitskultur aufmerksam. Eine adäquate Kultur im Unternehmen legitimiert das Frau-sein im Betrieb, in dem Weiblichkeit respektiert wird. Claudia geht einen Schritt weiter. Sie empfiehlt neben besseren Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, eine Modernisierung und Flexibilisierung der Arbeitszeitmodelle, sodass Familie mit Beruf vereinbar ist.
Die komplette Studie "The shop floor is not for every woman": Narratives on women industrial designers' relationships with shop floor workers von Pınar Kaygan gibt es hier zum download.
*) Mit der Erstellung dieses Textes wurde von uns das futureorg institut beauftragt, welches wiederum Frau Sali Abbas hiermit beauftragt hat.
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