Vergesst Generalisten! Denn es gibt sie nicht

Vergesst Generalisten! Denn es gibt sie nicht

Generalist – das ist eigentlich ein freundliches Wort für "Tunichtgut" oder "Taugenichts".  Organisationen, die in Komplexität zurecht kommen müssen, brauchen keine "Generalisten". Die es übrigens auch gar nicht gibt. Unternehmen brauchen Multispezialisten - und das ist etwas ganz anderes. Es ist übrigens auch das genaue Gegenteil von Monospezialisten.

23. Oktober 2024 um 04:30 Uhr von Niels Pfläging | Red42
  • 4


Monospezialistentum ist der Feind von organisationaler Agilität, Anpassungsfähigkeit, Beweglichkeit, Schlankheit. Es ist übrigens auch ein Feind der fortwährenden Verbesserung. Mehr noch: Wenn kompakte, selbstorganisierte Teams im Modus von Lean, Agilität oder Beta funktionieren sollen, dann kann sich eine solche Organisation nur sehr wenige Monospezialisten leisten. Monospezialisten verderben den agilen Brei, so könnte man sagen.  Monospezialistentum definieren wir hier als Einzel-Könnerschaft - eine Person, die "Monospezialist*in" ist, besitzt also nur eine ausgeprägte Könnerschaft. 

Ein Beispiel: Jugendliche sind meist so. Sie können vielleicht eine Sache bereits sehr gut (Schach etwa, oder eine bestimmte Sportart, oder die Fertigkeit, ein Musikinstrument zu spielen). Der Aufbau von Könnerschaften oder "Spezialistentümern" braucht Zeit - denn "Übung macht den Meister". Und nicht etwa Talent oder Begabung. Könnerschaft erfordert üben, üben und noch mehr üben. Daher können junge Menschen naturgemäss gar nicht viele, ausgeprägte Könnerschaften besitzen oder erworben haben. Sie hatten ja noch gar nicht die Zeit dazu, so viel zu üben! 

Von gestandenen, berufstätigen Erwachsenen dagegen darf man durchaus Multispezialistentum erwarten. Sie hatten bereits genug Zeit, verschiedene Dinge ausführlich und diszipliniert zu üben. Gestandene, erwachsene Menschen werden durch die Ausbildung mehrerer, vielleicht sogar zahlreicher Könnerschaften natürlich keinesfalls zu "Generalisten". Sie mögen so erscheinen. Sind es aber nicht. Sie haben einfach nur regelmässig eine ganze Reihe von Könnerschaften angehäuft: Sie sind dann nicht mehr "nur" Monospezialisten, sondern eben Multispezialisten.

Multispezialistentum: Ein Treiber, ja vielleicht sogar das Geheimnis organisationaler Beweglichkeit und Teameffektivität

Der Vorteil an Multispezialisten: Sie können mühelos in verschiedene Rollen schlüpfen, verfügen über mehrere oder gar viele Könnerschaften, sind daher vielseitig einsetzbar und können in unterschiedlichsten Konstellationen wirksam oder "produktiv" werden. 

Übrigens: Tayloristische, funktional geteilte Organisationen neigen dazu, durch ihren siloartigen Aufbau, durch rein hierarchische Karrierewege und durch systematische Überbewertung einseitiger Arbeitsausrichtung und Qualifizierungen Monospezialistentum intern zu befördern und sogar zu erzwingen. Sie neigen dazu, Multispezialistentum gleichsam "auszutreiben" und zu behindern. Hier sind Buchhalter von Buchhaltern umgeben. Marketer von Marketern, Entwickler von Entwicklern – möglichst noch spezialisiert auf einzelne Aspekte, Komponenten oder Probleme. 

In funktional geteilter Organisation entsteht zudem eine Neigung dazu, im Hinblick auf Könnerschaften und Spezialisierungen völlig falsch zu rekrutieren. Beispiele: Ingenieure heuern Ingenieure an, die gleichartig spezialisiert sind wie sie. Abteilungen tendieren dazu, einseitige Könnerschaften zu kultivieren. So geraten sie langfristig in "Schieflage", verhindern persönliches Wachstum und Zusammenarbeit. Am Ende dieser Entwicklung steht eine Organisation aus "perfekten Fachidioten", die nur in Ausnahmefällen zum Miteinander-Füreinander-Leisten in der Lage sind, und die sich nur übereinander beschweren können.

Leider hat sich in den letzten 10 Jahren weithin das Gerede von "T-shaped professionals" etabliert. Es handelt sich dabei um eine perfide Überhöhung der Ideologie des Monospezialistentums, kaschiert als Propaganda für's Generalistentum. Die Metapher des "The-shaped professional" hat offenbar bei McKinsey & Co. ihren (einleuchtenden!) Ursprung: Gerade grosse Beratungsunternehmen rekrutieren und züchten selbst gerne junge, eifrige "Wenigkönner" (der Stamm des "T"), die den Anschein erwecken können oder sollten, "breit aufgestellt" zu sein und "mehr zu scheinen als zu sein" (der Balken des "T"). Die so domestizierten Arbeitskräfte sind vor allem eins: eifrige Scheinriesen. 

Für die Geschäftsmodelle in der hoch-industrialisierten, beratungsähnlichen Dienstleistung mag eine derartig gefasste Ideologie von Qualifizierungsstukturen angemessen erscheinen. Für die agile, teambasierte Höchstleistungsorganisationen wäre solch ein Dogma eine ausweglose Sackgasse.

Fazit

  1. Eigentlich sind alle Menschen zum Multispezialistentum veranlagt – sie brauchen aber Zeit und Übung, um Multikönnerschaften zu entfalten.
  2. Funktionale Differenzierung ist der Feind des Multispezialistentums.
  3. Selbststeuernde Teams hängen davon ab, dass fast alle, oder möglichst alle Akteure Multispezialisten sind.
  4. Vergesst "Generalistentum"! Dieser Gedanke war schon immer ein Denkfehler. 
       

Mehr zu diesem Thema findet sich im Buch Zellstrukturdesign von Silke Hermann und Niels Pflaeging. Die 2., ergänzte Neuauflage erschien 2023 im Verlag Vahlen

Mehr zum Zellstrukturdesign: www.cellstructuredesign.com 



Kommentare

Bisher hat niemand einen Kommentar hinterlassen.

Kommentar schreiben

Melde Dich an, um einen Kommentar zu hinterlassen.

Teilen

Weitere Inhalte

Wie könnte unser Wirtschaftsleben im Jahr 2050 aussehen?
Wie könnte unser Wirtschaftsleben im Jahr 2050 aussehen?

Auf der #Postion2050 wollen wir mit Dir über die Zukunft des Wirtschaftsstandort Deutschland dsikutieren!