Das Leistungsnarrativ – nur ein Märchen der Mächtigen?
Oder: Warum „Erfolg“ stärker in unserer eigenen Hand liegt als einige glauben
In den vergangenen Monaten habe ich immer wieder Beiträge gelesen, die von einem sogenannten „Leistungsmythos" sprechen. Demnach komme es im Leben weit weniger auf die eigene Leistung an, als viele Menschen gemeinhin glaubten. Vielmehr sei der persönliche „Erfolg“ im Leben vor allem auf Glück, den Zufall, äußere Umstände und Privilegien (wie eine „gehobene“ familiäre Herkunft oder ein Aufwachsen in finanzieller Sicherheit) zurückzuführen.
Es gibt in dieser Debatte ernst zu nehmende Argumente. Sie gehen zum Beispiel auf Untersuchungen von Michael Hartmann zurück, einem Soziologen, der lange Zeit als Professor an der Technischen Universität Darmstadt lehrte, sich intensiv mit Eliten in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft befasst und 2002 das Buch „Der Mythos von den Leistungseliten“ veröffentlicht hat. Er untersuchte über die Jahrzehnte Tausende Lebensläufevon Menschen in Spitzenpositionen, die Faktoren, die zu ihrem Aufstieg beitrugen, sowie die Folgen, die die soziale Zusammensetzung der Eliten hat. Seiner Ansicht nach zählen beim Aufstieg in Führungspositionen insbesondere die soziale Herkunft, Aspekte wie die „richtige Chemie“ mit den Peers und damit auch ein Wissen um ungeschriebene Regeln, die richtige Kleidung oder das nötige souveräne Auftreten – mithin Codes, die vor allem jene kennen, die damit schon groß werden.
Ein anderer interessanter Aspekt ist der sogenannte „Überlebenden-Bias“. Dabei geht es um eine kognitive Verzerrung, die erfolgreiche Menschen (oder ihr Umfeld) zu einer Überschätzung des Erfolgs respektive seiner Wahrscheinlichkeit verleitet. Ob Gründer, Frauen in Spitzenjobs, Topsportler, berühmte Künstler, Musiker oder Influencer: Wer es „geschafft“ hat, der ist häufig selbst davon überzeugt, dass sich harte Arbeit lohnt, ja dass es jeder schaffen kann, wenn er sich nur genügend anstrengt. Oder andere treffen diese Zuschreibungen – und übersehen all jene, die auch etwas konnten, ebenfalls hart gearbeitet haben und trotzdem im Schatten blieben. Die talentierten Kicker, die nichts wurden, die tollenSänger, die vor kleinem Publikum spielen, oder spannende Künstler, deren Werk die Gesellschaft erst nach ihrem Tode „entdeckt“.
Nun ist es eine Sache, Erfolg differenzierter zu betrachten, sprich zu untersuchen, wie weit die individuelle Leistung, aber auch externe, strukturelle Faktoren dazu beitragen. Schwierig wird es dann, wenn suggeriert wird, dass harte Arbeit und persönliches Engagement nur eine untergeordnete Rolle spielen, ja im Grunde irrelevant seien. Das geht teils so weit, dass Leistung als Narrativ der Mächtigen dargestellt wird, das dazu diene, den „Armen“ ein schlechtes Gewissen einzureden (denn danach wären sie ja offenkundig selbst schuld an ihrermisslichen Lage).
In dieser Logik werden externe Faktoren meiner Ansicht nach schon wieder überbewertet.Würde sie stimmen, würde das dann nicht bedeuten, dass wir nur Opfer der Umstände sindund uns im Grunde dem eigenen Schicksal ergeben müssen? Dass es sich nicht lohnt, hart zu arbeiten und nach Exzellenz zu streben? Wäre das nicht frustrierend, gar fatal? Im Übrigen gibt es ermutigende Daten wie jene, die das US-Magazin Forbes jährlich über die 400 reichsten Menschen der Vereinigten Staaten veröffentlicht: Nach den jüngsten Zahlen waren 70 Prozent von ihnen „Selfmade-Milliardäre“ – und auch von diesen gehörten nur 11,5 Prozent schon bei Geburt der Oberschicht an (während 10,4 Prozent in Armut aufgewachsen waren, 19,7 Prozent der Arbeiterklasse entstammten und 54,5 Prozent aus der Mittelschichtkamen).
In diesem Beitrag möchte ich anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse untersuchen, was unsere Leistung beeinflusst, welche Rolle sie für unseren Erfolg spielt und wie sich all das auf unsere mentale Gesundheit auswirkt. Dabei möchte ich bewusst nicht näher darauf eingehen, was „Erfolg“ ausmacht, denn Erfolg kann viele Dimensionen haben. Für viele Menschen geht es meist um mehr als Geld oder Status.
Ein mit Blick auf Leistung und Erfolg zentrales Konzept ist für mich das der Kontrollüberzeugung („locus of control“), das der US-Psychologe Julian Rotter Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwickelte. Dieses Konzept beschreibt, inwieweit Menschen glauben, dass sie Einfluss auf die Ereignisse in ihrem Leben nehmen.
Menschen mit einer internen Kontrollüberzeugung gehen demnach davon aus, dass ihr Verhalten und ihre Entscheidungen maßgeblich für die Konsequenzen in ihrem Leben verantwortlich sind. Im Gegensatz dazu schreiben Personen mit einer externen Kontrollüberzeugung Ereignisse eher äußeren Umständen, dem Schicksal oder dem Zufall zu, mithin Faktoren, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Ob dies tatsächlich auch so ist, spielt keine Rolle, entscheidend ist die persönliche Wahrnehmung.
Interessanterweise zeigt die Forschung, dass Menschen mit einer internen Kontrollüberzeugung tendenziell erfolgreicher sind. Sie sind häufig leistungsorientierter und erreichen besser bezahlte Positionen. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sie eher bereit sind, Herausforderungen anzunehmen und Hindernisse zu überwinden, da sie glauben, dass ihre Anstrengungen einen Unterschied machen.
Besonders bemerkenswert ist der Zusammenhang zwischen Kontrollüberzeugung und psychischer Gesundheit. So erleben nach Daten der Weltgesundheitsorganisation weltweit 5,1 Prozent der Frauen und 3,6 Prozent der Männer Depressionen; bei Angststörungen sind es 4,6 Prozent der Frauen und 2,6 Prozent der Männer. Auch andere Studien zeigen: Es existiert ein signifikanter „gender gap“ in der psychischen Gesundheit, und zwar zu Lasten der Frauen. Eine 2020 veröffentlichte Studie zu mehr als 20.000 Australiern bestätigte nun zum einen frühere Erkenntnisse, wonach Frauen eher eine externe Kontrollüberzeugung haben als Männer. Zum anderen demonstrierte sie, dass bei ihnen eine Erhöhung der internen Kontrollüberzeugung um eine Einheit einen größeren Effekt auf diese Lücke zwischen den Geschlechtern hat (sprich diese stärker schließt) als jede andere Variable, einschließlich des Beschäftigungs- und Ehestatus.
Das Konzept der Selbstwirksamkeit („self-efficacy“), das vom kanadischen PsychologenAlbert Bandura in den Achtzigerjahren entwickelt wurde, ist eng verwandt mit der Idee der Kontrollüberzeugung. Selbstwirksamkeit bezieht sich darauf, wie sehr eine Person an ihre Fähigkeit glaubt, bestimmte Aufgaben zu bewältigen und Ziele zu erreichen.
Bandura zeigte, dass Menschen mit einer hohen Selbstwirksamkeit ausdauernder sind und Herausforderungen eher als Gelegenheiten zum Lernen und Wachsen betrachten. Sie geben weniger schnell auf und zeigen eine höhere Resilienz gegenüber Rückschlägen.
Die Bedeutung der Selbstwirksamkeit geht über den individuellen Erfolg hinaus. Studien haben gezeigt, dass eine hohe Selbstwirksamkeit mit besserer Gesundheit, höherer Lebenszufriedenheit und geringerem Stresserleben verbunden ist.
Ein weiteres, in der Diskussion über „Erfolg“ wichtiges Konzept ist „Grit“, ein Begriff, der von Angela Duckworth, einer US-Psychologin und Professorin an der University of Pennsylvania, geprägt wurde. „Grit“ lässt sich schwer ins Deutsche übersetzen und beschreibt eine Kombination aus Leidenschaft und Ausdauer bei der Verfolgung langfristiger Ziele.
Duckworths Forschung an der United States Military Academy in West Point zeigte, dass Grit ein besserer Prädiktor für den Erfolg in anspruchsvollen Trainingsprogrammen war als traditionelle Leistungsmaße wie zum Beispiel die Ergebnisse standardisierter SAT-Tests. Ähnliche Resultate fanden sich in verschiedenen anderen Bereichen, vom Verkauf bis zur Bildung.
Besonders bemerkenswert ist, dass Grit in vielen Fällen ein besserer Prädiktor für Erfolg war als Intelligenz oder Talent. Duckworth argumentiert, dass Anstrengung doppelt zählt: Sie verwandele erst Talent in Fähigkeiten und dann Fähigkeiten in Leistung.
Während die bisher genannten Konzepte die Rolle von Leistung und Ausdauer betonen, dürfen wir die Rolle des Zufalls nicht außer Acht lassen – in diesem Punkt haben Kritiker in der Tat Recht. Wie wir Gelegenheiten, die sich uns bieten, zu unserem Vorteil nutzen können, das zeigt das Konzept der Serendipität, wie es von Christian Busch in seinem Buch „The Serendipity Mindset“ beschrieben wird. Ich will mich hier auf einige wesentliche Aspekte beschränken (wer mehr darüber erfahren will, dem empfehle ich Beitrag #12 über „Serendipität und das ‚glückliche Leben‘“).
Busch, der neuerdings Professor an der University of Southern California in L.A. ist,argumentiert, dass Serendipität nicht einfach blindes Glück ist, sondern eine Kombination aus zufälligen Ereignissen und der Fähigkeit, diese zu erkennen und zu nutzen. Menschen mit einem „Serendipitäts-Mindset“ sind offener für unerwartete Möglichkeiten, nehmen diese eher wahr und können sie besser in Chancen verwandeln.
Viele bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen wie die von Penicillin waren das Ergebnis zufälliger Beobachtungen. Doch diese Entdeckungen wurden nur dadurch möglich, weil die Wissenschaftler vorbereitet, aufmerksam und in der Lage waren, den Wert dieser Zufälle zu erkennen und zu nutzen. Auch viele erfolgreiche Unternehmer berichten von zufälligen Begegnungen und Gelegenheiten, die ihre Karrieren entscheidend beeinflusst hätten. Diese Unternehmer waren jedoch häufig auch gut auf diese Situation vorbereitet, und sie hatten die Fähigkeiten und das Wissen, um diese Chancen dann auch effektiv zu ergreifen. Selbst im persönlichen Bereich können zufällige Ereignisse und Gespräche oft zu bedeutenden Veränderungen führen. Menschen, die offen und neugierig durch die Welt gehen, werden diese Gelegenheiten eher erkennen und dafür nutzen, ihre persönlichen und beruflichen Ziele zu erreichen.
Interessanterweise ergänzt das Konzept der Serendipität die Ideen von Leistung und Ausdauer. Während harte Arbeit und Durchhaltevermögen die Grundlage für Erfolg bilden, ermöglicht eine offene und flexible Einstellung, unerwartete Gelegenheiten zu nutzen und den eigenen Weg anzupassen.
Die Diskussion über Leistung und Erfolg wäre unvollständig ohne die Berücksichtigung kultureller Faktoren. Interessante Einblicke liefern hier Studien über Bildungserfolge verschiedener ethnischer Gruppen in Deutschland.
Trotz oft schwierigerer Ausgangsbedingungen zeigen beispielsweise vietnamesische Jugendliche in Deutschland bemerkenswerte Bildungserfolge. Im Schuljahr 2013/2014 besuchten 64,4 Prozent der vietnamesischen Jugendlichen ein Gymnasium, verglichen mit 47,2 Prozent der deutschen und nur 19,9 Prozent der türkischen Jugendlichen.
Diese Unterschiede lassen sich nicht allein durch ökonomisches oder soziales Kapital erklären. Vielmehr scheinen kulturelle Faktoren wie eine starke Betonung von Bildung, Fleiß und Disziplin eine wichtige Rolle zu spielen. Dies unterstreicht, dass Leistung und Erfolg nicht isoliert betrachtet werden können, sondern immer im Kontext kultureller Werte und Einstellungen verstanden werden müssen.
Ein oft übersehener Aspekt in der Leistungsdebatte ist der Zusammenhang zwischen Leistungsorientierung, psychischer Gesundheit und allgemeinem Wohlbefinden. Übermäßiger Leistungsdruck kann negative Auswirkungen haben, zweifellos, doch die Forschung weist auch auf positive Verbindungen hin.
Menschen mit einer internen Kontrollüberzeugung und hoher Selbstwirksamkeit neigen zum Beispiel zu besserer psychischer Gesundheit. Sie erleben weniger Stress und Angst, zudem sind sie stärker in der Lage, mit Herausforderungen umzugehen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie sich weniger hilflos fühlen und eher glauben, aktiv Einfluss auf ihr Leben nehmen zu können.
Auch Grit scheint positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zu haben. Menschen mit hoher Ausdauer und Leidenschaft für ihre Ziele berichten häufiger von einem „Sinn“ ihres Tuns und einer größere Lebenszufriedenheit.
Diese Erkenntnisse legen nahe, dass eine angemessene Leistungsorientierung nicht nur zumäußeren, sichtbaren Erfolg, sondern auch zum inneren Wohlbefinden beitragen kann.
Trotz der vielen erfreulichen Aspekte von Leistungsorientierung und persönlicher Anstrengung ist es wichtig, auch die Grenzen des Leistungsparadigmas zu erkennen. Übermäßiger Leistungsdruck – ob von außen oder innen kommend – kann zu Stress, Burnout und anderen gesundheitlichen Problemen führen. Zudem besteht die Gefahr, dass eine zu starke Fokussierung auf die individuelle Leistung strukturelle Ungleichheiten und systemische Barrieren übersieht.
Es ist daher wichtig, einen ausgewogenen Ansatz zu finden, der die Bedeutung persönlicher Anstrengung anerkennt, ohne dabei die Rolle externer Faktoren zu ignorieren. Zugleichsollten wir kritisch hinterfragen, wie wir Erfolg definieren und ob unsere gegenwärtigen Maßstäbe wirklich zu einem erfüllten und ausgewogenen Leben beitragen.
Am Ende bin ich jedoch überzeugt: Leistung ist kein Mythos, sondern ein wichtiger Faktor für Erfolg und Wohlbefinden. Gleichwohl ist es wichtig, Leistung nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie Serendipität, kulturellen Einflüssen und strukturellen Gegebenheiten. Nur durch diesen ganzheitlichen Ansatz können wir ein realistisches und nuanciertes Verständnis von Erfolg und persönlicher Entwicklung gewinnen.
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