Von Erkenntnisriesen und Umsetzungszwergen
Oder: Wie es gelingt, den Elefanten in uns zu zähmen
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie einmal der Geschäftsführer eines großen mittelständischen Unternehmens – mit immerhin mehreren hundert Millionen Euro Umsatz im Jahr – seine eigene Organisation wie folgt charakterisierte:
„Wir sind Erkenntnisriesen und Umsetzungszwerge.“
Sehr prägnant formulierte er damit ein Problem, dass jeder Mensch kennt. Wir alle wissen in der Regel, welches Verhalten das richtige für uns oder für unsere Organisation wäre. Doch trotz dieses Wissens ändern wir unser Verhalten häufig nicht.
Woran liegt das? Und wie ginge es besser?
„Knowledge does not change behavior.”
So brachte es vor rund 15 Jahren Jerry Sternin auf den Punkt. Sternin war Mitarbeiter von Save the Children, und er formulierte diese Worte, als er Chip und Dan Heath von seinem Kampf gegen die Unterernährung von Kindern in Vietnam berichtete. Die zwei Brüder arbeiteten an ihrem neuen Buch „Switch“ – das später ein Bestseller werden sollte. Darin erklären die beiden sehr anschaulich, warum so viele Transformationsprojekte scheitern, warum der Weg von der Erkenntnis zur Umsetzung häufig so beschwerlich ist.
In „Switch“ greifen die Heaths – von denen der eine heute Professor Emeritus an der Stanford Graduate School of Business (Kalifornien) ist und der andere Senior Fellow an der Business School der Duke University (North Carolina) – auf ein Modell des US-Sozialpsychologen und Ethik-Professors Jonathan Haidt zurück, das dieser vor bald 20 Jahren in seinem Bestseller „Die Glückshypothese“ erstmals vorstellte.
Beide Bücher habe ich kürzlich bereits in meinen Lesetipps empfohlen (das Werk der Gebrüder Heath hier, das von Haidt hier). Nun möchte ich noch etwas näher auf ihre Erkenntnisse und Empfehlungen eingehen – insbesondere auf Jonathan Haidt von der New York University.
Haidt erklärt anhand verschiedener Metaphern, warum wir so handeln, wie wir handeln. So zitiert er auch Buddha, der den Geist mit einem wilden Elefanten verglichen haben soll:
„Früher schweifte dieser Geist viel umher, wohin auch immer das Verlangen ihn führte; doch jetzt halte ich ihn achtsam zurück, so wie der Wächter den wilden Elefanten.“
Haidt hat dieses Bild in seinem Arbeitsmodell aufgegriffen und weiterentwickelt. Er stellt sich einen Elefanten vor, der auf einem Weg von einem Reiter gezähmt wird, um an sein Ziel zu gelangen. In diesem Bild, das über die Jahre große Popularität erfahren hat, symbolisiert der Reiter den Verstand, der Elefant die Gefühle und der Weg die Rahmenbedingungen.
Wer eine erfolgreiche Veränderung initiieren will, muss demnach
- den Weg ebnen, damit der Elefant ihn leichter gehen kann,
- den Elefanten emotional ansprechen und motivieren, damit dieser den Weg überhaupt gehen will, und
- dem Reiter Informationen geben, wie er bewusst und auch gezielt auf den Elefanten einwirken kann.
Nun kann es, wenn wir den Schritt von der Erkenntnis zur Umsetzung wagen und dabei versagen, selbstverständlich daran liegen, dass der Weg (sprich das äußere Umfeld) uns vor Hürden und Probleme stellt. Wenn wir ehrlich sind, liegt es aber weit häufiger daran, dass Reiter und Elefant sich über die Richtung uneins sind.
Zwar kann der Reiter vorübergehend die Oberhand gewinnen. Schaut man sich die aktuelle Willensforschung an, stellt man fest, dass der Wille des Menschen auch nur ein „Muskel“ ist, der einerseits trainiert und dadurch gestärkt werden kann. Andererseits heißt das aber auch, dass dieser Muskel bei zu großer Belastung ermüden kann, zum Beispiel wenn zu viele Entscheidungen getroffen werden müssen. In dem Fall fehlt die Kraft, das Ziel zu erreichen. So beschreibt es der Journalist und Pulitzer-Preisträger Charles Duhigg in seinem Buch „The Power of Habit“ (in Deutschland erschienen unter dem Titel „Die Macht der Gewohnheit“):
„Willpower isn’t just a skill. It’s a muscle, like the muscles in your arms or legs, and it gets tired as it works harder, so there’s less power left over for other things.”
Das ist einer der Gründe, warum so viele Neujahrsvorsätze nur Vorsätze bleiben. Ziele erscheinen groß und weit weg, und sie zu erreichen, erfordert viel Disziplin und Willenskraft. Für kurze Zeit mag das gut gehen, aber über längere Strecken wird es schwer.
Ähnlich ist es mit der Erkenntnis und ihrer Umsetzung. Mit reiner Willenskraft allein wird dieser Schritt nicht gelingen. Zu groß sind die Gewichtsunterschiede zwischen einem 80 kg schweren Reiter (unserem Verstand) und einem sechs Tonnen schweren Elefanten (unseren Gefühlen).
Neben dem Wissen und dem Willen müssen wir somit auch die emotionale Seite unseres Wesens aktivieren.
Interessant ist, wie wir uns selbst immer wieder das Scheitern im ungleichen Kampf von Ratio und Emotio erklären. Zum einen sind wir als Reiter sehr gut darin, das Verhalten desemotionalen Elefanten in uns sehr rational zu begründen, indem wir im Nachhinein die „passenden“ Argumente finden, die unser Verhalten erklären – ein Phänomen, das„Rationalisierung“ genannt wird. Zum anderen kommt es vor, dass wir, ohne dass es uns bewusst ist, falsche Erinnerungen produzieren, die wir für wahr halten – diese Form der Selbsttäuschung heißt „Konfabulation“. Darüber hinaus erzählen wir uns und unserer Umwelt gerne verschiedene Geschichten, die eigenes ungünstiges Verhalten in einem günstigen Licht erscheinen lassen. Anders gesagt: Wir reden uns die Dinge schön. Dieses Phänomen wird als „positive Illusion“ bezeichnet.
Es ist ja aber auch nur zu verständlich. Schließlich laufen die meisten Denkprozesse automatisch ab, sonst kämen wir mit der Informationsverarbeitung und den vielen Entscheidungen im Alltag nicht zurecht. Und so entscheiden wir weit häufiger, als wir es unsselbst eingestehen, „aus dem Bauch heraus“ – und rationalisieren unsere Entscheidung im Nachhinein.
Über dieses „Invisible Game“ habe ich mit Kai-Markus Müller gesprochen, Professor für Consumer Behavior an der Hochschule Furtwangen und Autor des gleichnamigen Buchs (mehr zum Thema erfahren Sie in unserem SMP LeaderTalk „The Invisible Game: Wie man durch Hirnforschung höhere Leistung erzielt – ein Interview mit Prof. Dr. Kai-Markus Müller“).
Womit wir bei der Frage sind: Wie geht es besser?
Eines ist klar: Wir können die drei Elemente aus Haidts Bild nicht unabhängig voneinander betrachten.
„So if you reach the Riders of your team but not the Elephants, team members will have understanding without motivation. If you reach their Elephants but not their Riders, they’ll have passion without direction.“
So bündig formulieren es die Gebrüder Heath.
Fangen wir also mit dem Reiter an: Was hilft ihm?
Sein Hauptproblem ist, dass er zu viel analysiert und zu wenig umsetzt. Er verbringt zu viel Zeit damit, Informationen zu sammeln, statt aktiv zu handeln, oder er hat das Gefühl, nicht genügend Informationen gesammelt zu haben, um eine möglicherweise unangenehme Entscheidung zu treffen. Und aus seinem Harmoniebedürfnis heraus scheut er sich, eine solche Entscheidung zu treffen, wenn sie soziale Folgen hat, denn das könnte auch Konsequenzen nach sich ziehen – sowohl für ihn selbst als auch für die Umwelt. Schließlich verlässt man die eigene Komfortzone und hat Angst vor Wachstumsschmerzen.
Aus diesem Grund ist auch Datentransparenz zur Reflexion und Einordnung einer Entwicklung (sei es in Form eines Steuerungscockpits oder durch EBIT-Transparenz im Portfolio) so wichtig. Sowohl im Hinblick auf den Umfang als auch auf die Validität einer Entscheidung. Daten sollten gesicherte Erkenntnisse liefern – und dann ist es nicht mehr notwendig, alles zu hinterfragen oder sich tief in den Ursachen von Problemen zu verlieren, sondern ab einem bestimmten Punkt möglich, sich auf effektive Lösungen zu konzentrieren.
Hilfreich – und deshalb so beliebt – sind auch externe Berater und Coaches. Sie geben dem Reiter die Unterstützung, die er häufig braucht, um den ersten Schritt zu tun.
Wichtig ist zudem Klarheit über die Stoßrichtung. Damit meine ich weniger Ziele, denn wie wir von James Clear, Experte auf dem Gebiet der Selbstentwicklung und Autor des Bestsellers „Atomic Habits“ („Die 1%-Methode“), gelernt haben, gilt für Ziele:
„Winners and losers have the same goals.”
Ich bin daher eher ein Freund von klaren Leitbildern, die uns Orientierung geben, wie wir bei relevanten Weichenstellungen und mehreren Optionen zu klaren Entscheidungen kommen. Vor allem sollten die Weichenstellungen konsequent dem einmal definierten Leitbild folgen. Es bestimmt den »Polarstern«, den Fixpunkt, der uns die Richtung vorgibt, in die sich das Unternehmen oder wir uns als Person entwickeln sollen. Wie schrieben Chip und Dan Heath so treffend:
„If the Rider isn’t sure exactly what direction to go, he tends to lead the Elephant in circles. And as we’ll see, that tendency explains the third and final surprise about change: What looks like resistance is often a lack of clarity.”
Haben wir den Reiter einmal rational überzeugt, müssen wir auf die emotionale und leidenschaftliche Perspektive des Elefanten zielen. John Kotter, der Papst des Change Management aus den USA, formulierte es in seinem mit Dan Cohen verfassten Buch „The Heart of Change“ so:
„In highly successful change efforts, people find ways to help others see the problems or solutions in ways that influence emotions, not just thought.”
Erfolgreiche Veränderungen werden also weniger durch analytische Erkenntnisse als vielmehr durch emotionale Resonanz umgesetzt. Wenn sich eine Veränderung richtig anfühlt, überwinden wir selbst die größten Hindernisse mit Leichtigkeit. Emotionen sind die treibende Kraft hinter unserem Handeln.
Nun können wir Emotionen nicht aus dem Nichts erschaffen. Sie entstehen häufig dann, wenn wir ein Problem, eine Lösung oder unseren Ansatz aus einer neuen Perspektive betrachten. Emotionen werden nicht von Logik, Statistiken oder Fakten beeinflusst, sondern allenfalls von ihnen unterstützt.
Die entscheidende Frage ist, welche Emotionen in einer bestimmten Situation aktiviert werden sollen. Je nach Kontext sind positive oder negative Emotionen der Lage besser angemessen. Positive Emotionen wie Hoffnung erweitern unser Denken, negative Emotionen wie Angst engen es ein.
Tendenziell gilt: Angst kann Menschen motivieren, eine bestimmte Handlung auszuführen, aber sie ist nicht hilfreich, wenn kreatives Denken gefragt ist. Angst kann Menschen dazu bringen, von einer brennenden Plattform in den Ozean zu springen, aber sie wird niemanden dazu bringen, ein schwieriges statistisches Analyseproblem zu lösen. Sprechen Sie daher nach Möglichkeit besser positive Emotionen an. Wecken Sie Staunen bei Ihren Teammitgliedern und sorgen Sie dafür, dass sie sich mit der Veränderung identifizieren.
„One way to motivate a switch is to shrink the change, which makes people feel ‘big’ relative to the challenge.”
So die Gebrüder Heath. Sie formulieren eine zentrale Frage:
„How can you make your change a matter of identity rather than a matter of consequences?”
Kommen wir zum Schluss zum Weg. Ihn können wir ebnen, indem wir Rahmenbedingungen schaffen, die das Verhalten gezielt steuern. Wir müssen ihn also mit den richtigen Steinenpflastern, die dem Elefanten das Vorankommen erleichtern.
Die richtigen Steine, das sind „Nudges“ – kleine Anstöße, die eine gewünschte Handlung fördern (oder eine unerwünschte Routine erschweren) und so helfen, die Umwelt im angestrebten Sinne zu gestalten. Der Ansatz geht zurück auf den „Libertären Paternalismus“ des US-Verhaltensökonomen und Nobelpreisträgers Richard H. Thaler, der ihn 2008 mit einem Buch populär machte.
Im Alltag heißt das zum Beispiel:
Möchten wir uns gesünder ernähren, sollten wir Äpfel oder geschälte Karotten auf dem Tisch stellen – und Süßigkeiten in der untersten Schublade verstauen.
Möchten wir konzentriert arbeiten, sollten wir unser Handy in ein anderes Zimmer legen und alle Benachrichtigungen ausschalten. Auch während eines Meetings oder einer Vorlesung steigt unsere Aufnahmefähigkeit erheblich, wenn das Smartphone in der Tasche liegt (statt auf dem Tisch).
Kurz gesagt: Überlisten Sie sich selbst! Eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Methode, um die Aussichten von Plänen, auch Realität zu werden, zu erhöhen, ist die Formulierung von Handlungsauslösern. Statt sich nur vorzunehmen, ein bestimmtes Projekt in den Ferien umzusetzen, sollten Sie zusätzlich einen konkreten Zeitpunkt und Ort festlegen. Studien zeigen, dass sich die Umsetzungswahrscheinlichkeit bei schwierigen Zielen auf diese Weise fast verdreifachen lässt (!).
Formulieren Sie Ihr Ziel somit nicht allgemein:
„Wir werden die Qualität in der Produktion verbessern.“
Formulieren Sie stattdessen konkreter:
„Mein Team wird dafür sorgen, dass wir bis zum 25. November die Ausschussquote um zwei Prozentpunkte reduzieren!“
Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass eine Veränderung auch tatsächlich in Angriff genommen wird, sollte nie nur gefragt werden, was zu tun ist – sondern auch wann, wo und am besten auch: wie.
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