Drei heuristische Fragen der Leadership
Oder: Wie sich Managemententscheidungen erfolgreich „stressen“ lassen
Bei dem jüngsten Lehrgang „Turnaround- und Transformationsmanager“ am IfUS, dem Institut für Unternehmenssanierung in Heidelberg, hatten wir mit rund 20 Personen eine sehr spannende Diskussion darüber, wie man Managemententscheidungen richtig hinterfragt. Meine Überzeugung ist, dass Energie dem Fokus folgt, und das bedeutet in diesem Zusammenhang:
Wann war bei Ihnen das letzte Mal das erste Mal?
Bei der Reflexion der Erkenntnisse habe ich später drei mögliche heuristische Fragen vorgestellt, die mir nachts durch den Kopf gegangen sind. Gerne teile ich diese mit meinem Netzwerk, denn es würde mich interessieren, welche Fragen den vielen Experten dort in diesem Kontext einfallen.
Frage 1: Macht diese Entscheidung unser Boot schneller?
Diese Frage geht auf ein Gespräch mit dem Rudersportler Andreas Kuffner zurück, das ich im vergangenen Jahr im Rahmen unserer Beraterhütte geführt habe. Andreas wurde mit dem Deutschland-Achter 2011 Weltmeister und 2012 Olympiasieger.
Am Anfang des Hinterfragens steht für mich stets die Klarheit über die Stoßrichtung des Unternehmens. Damit meine ich weniger einzelne Ziele als vielmehr Zielbilder. Warum dieser Unterschied so wichtig ist, erklärt James Clear, Experte für Persönlichkeitsentwicklung und Autor des Bestsellers „Atomic Habits“ („Die 1%-Methode“), auf sehr griffige Weise:
„Gewinner und Verlierer haben die gleichen Ziele.”
Ich bin daher eher ein Freund von klaren Leitbildern, die uns Orientierung geben, wie wir bei relevanten Weichenstellungen und mehreren Optionen zu klaren Entscheidungen kommen. Vor allem sollten die Weichenstellungen konsequent dem einmal definierten Leitbild folgen. Es bestimmt den „Polarstern“, den Fixpunkt, der uns die Richtung vorgibt, in die sich das Unternehmen oder wir als Person entwickeln sollen. Daraus ergibt sich dann auch die wichtigste Frage, um alle Managemententscheidungen zu stressen:
Macht diese Entscheidung unser Boot schneller, sprich kommen wir unserem „Polarstern“ damit etwas näher?
In diesem Zusammenhang hilft es auch, systemischer zu denken. Wieder James Clear:
„You do not rise to the level of your goals. You fall to the level of your systems.“
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Beispiel ausführen, das ich früher bereits hier & da erwähnt habe (etwa im Sommer bei den zehn Leitsätzen meines Lebens), aber so inspirierend ist, dass es lohnt, wiederholt und geteilt zu werden.
Es dreht sich um Dave Brailsford. Dieser übernahm 2010 den Chefposten beim neuen britischen Radsportteam „Sky“. Bis dahin hatte noch kein britischer Fahrer die Tour de France gewonnen, aber Brailsford glaubte, dass einer seiner Fahrer in fünf Jahren die Tour de France gewinnen könnte, sollte er mit seiner Arbeit erfolgreich sein.
Er irrte sich.
Bereits 2012 gewann Bradley Wiggins als erster britischer Radrennfahrer die Tour de France. Es folgten weitere Siege mit Chris Froome und Geraint Thomas. Zudem gewannen die britischen Radsportler mit ihrem nationalen Team, das damals ebenfalls von Brailsford geführt wurde, bei den Olympischen Spielen 2012 in London 8 von 14 Goldmedaillen in den Radwettbewerben auf der Bahn und der Straße. Wie schon 2008 in Peking.
Brailsford verfolgte in seiner Arbeit den Ansatz „aggregation of marginal gains“. Sein Prinzip war denkbar einfach und bestechend: die systematische Verbesserung aller relevanten Aktivitäten – nicht etwa um zehn Prozent, sondern nur um ein Prozent, das aber konsequent. Inspiriert wurde er dabei durch das japanische Konzept der kontinuierlichen Verbesserung, auch bekannt als „Kaizen“. Später erklärte er:
„Forget about perfection; focus on progression, and compound the improvements.“
Brailsford und seine Mannschaft suchten überall nach kleinsten Verbesserungen und fanden unzählige Möglichkeiten.
So stellten sie bei der Analyse des Mechaniker-Bereichs im Teamtruck fest, dass sich auf dem Boden Staub ansammelte, der die Wartung der Räder erschwerte. Also strichen sie den Boden weiß an, um den Schmutz sichtbar zu machen.
Sie engagierten einen Chirurgen, der den Athleten beibrachte, wie sie sich richtig die Hände wuschen, um sich während des Wettkampfs vor Krankheiten zu schützen. Und während der Olympischen Spiele selbst wurden natürlich keine Hände geschüttelt (wir reden über eine Zeit weit vor Corona, wohlgemerkt).
Die Athleten bekamen ihre eigenen Matratzen und Kissen, damit sie trotz unterschiedlicher Hotels jede Nacht in der gleichen Position schlafen konnten.
All diese kleinen Maßnahmen brachte sie ihrer Vision, die Olympischen Spiele zu dominieren, einen kleinen Schritt näher.
Das lässt sich sehr gut auf den unternehmerischen Alltag übertragen. Positioniert sich einUnternehmer im Premiumbereich, was Qualität betrifft, wird eine Einsparung bei den Sichtteilen oder bei der Langlebigkeit der Produkte ganz gewiss „unser Boot nicht schneller machen“.
Frage 2: Senken wir die internen Transaktionskosten oder erhöhen wir sie?
„Kernaufgabe von Führung ist es, bei allen Entscheidungen die Transaktionskosten im Auge zu haben“.
betont einer der besten Management-Experten, Dr. Reinhard K. Sprenger, den ich in ganz besonderer Weise schätze!
Zum besseren Verständnis, was er meint: Zunächst ist die Einsparung von Transaktionskosten der zentrale Grund, überhaupt ein Unternehmen zu gründen und nicht nur mit einem Netzwerk von freien Mitarbeitern oder Zulieferern zusammenzuarbeiten. Denn die Kooperationsarena eines Unternehmens senkt die Kosten der Zusammenarbeit deutlich mehr als die Koordination von mehreren hundert Akteuren über den Markt. Die Nutzung des Marktes verursacht – zusätzlich zum Preis für ein Gut oder eine Dienstleistung – Suchkosten, Koordinierungskosten, Vertrags- und Kontrollkosten. Diese „Kosten der Nutzung des Preismechanismus“, wie es der spätere Nobelpreisträger Ronald Coase 1937 formulierte, lassen sich durch die Schaffung von Unternehmen mit internen Hierarchien senken.
Natürlich verursachen aber auch die Koordination und Kontrolle in Unternehmen Kosten. Diese treten teils gut sichtbar auf, zum Beispiel in Form von Gemeinkosten für den Overhead, von Make-or-Buy-Entscheidungen oder infolge der Gründung eines weiteren Unternehmens. In vielen Fällen sind diese Transaktionskosten jedoch kaum sichtbar. Solche „impliziten“ Transaktionskosten sind besonders relevant und entstehen zum Beispiel, wenn interne Organisationseinheiten zusammenarbeiten. Zu ihnen gehören etwa klassische Verwaltungs- oder Bürokratieaufgaben wie Leistungsbeurteilungen, Meetings, Reportings oder Planungen.
Das Problem dabei ist, dass diese Kosten – wie gesagt – nicht sichtbar sind. Sie werden auf keine Kostenstelle gebucht. Deshalb ist es sehr bequem, sie zu ignorieren.
Die Tendenz der Unternehmen, sich mit sich selbst und nicht mit dem Markt zu beschäftigen, treibt die Transaktionskosten massiv in die Höhe.
Viele vergessen sehr schnell, dass intern alle Abteilungen nur als Lieferanten fungieren sollten, weil alle Kunden draußen sind – außerhalb des Unternehmens. Von außen nach innen denken, nicht von innen nach außen, lautet deshalb die Devise. Den Kunden interessiert nicht, wie das Unternehmen organisiert ist. Ihn interessiert nur die beste und günstigste Lösung für seine Bedürfnisse. Die Energie im Unternehmen soll nach außen fließen und nicht intern zwischen den Abteilungen oder Organisationseinheiten versickern.
Wer darüber hinaus versucht, ALLES unter Kontrolle zu haben, für den explodieren die internen Transaktionskosten. Das Management eines solchen Sicherheitszustandes verursacht enorme Mühe und Ausgaben. Ohne Vertrauen gibt es deshalb keine schlanken, kundenorientierten Organisationen.
So haben wir bei Struktur Management Partner zum Beispiel auch die individuelle variable Vergütung abgeschafft. Der interne Aufwand stand in keinem Verhältnis zum imaginierten Vorteil. Damit haben wir eine klare Fokussierung auf die Wertschöpfung erreicht. Auch hier zeigte sich sofort, dass Vertrauen Komplexität reduziert.
Deshalb sollte ein Leitgedanke jeder Entscheidung sein: „Senken wir die internen Transaktionskosten oder erhöhen wir sie?“
Frage 3: Arbeite ich jetzt am System oder am Menschen?
Durch die immer populärer werdende Systemtheorie und den Austausch mit meinen „Lieblingsgurus“ – wie Dr. Sprenger (zum Beispiel hier), Mark Poppenborg von intrinsify (zum Beispiel hier) oder Organisationsberater und Coach Klaus Eidenschink – habe ich mir eine neue Perspektive eröffnet. Dabei interpretiere ich die Dinge viel einfacher und vielleicht auch falsch. Aber diese Perspektive hilft mir sehr, Organisationen und unsere Entscheidungen besser zu verstehen respektive richtig zu stellen.
Die Systemtheorie betrachtet Unternehmen als dynamische, komplexe und ganzheitliche Systeme mit mehreren Subsystemen und einem Eigenleben. In diesem Zusammenhang lernte ich auch einen neuen Begriff kennen, der ursprünglich aus der Biologie stammt, inzwischen aber auch in anderen Zusammenhängen verwendet wird: den Begriff der „Autopoiese“. Danach bestimmen die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen eines Systems die Eigenschaften des Gesamtsystems. Ein lebendiges System hat demnach einen sich selbsterschaffenden, selbst organisierenden, selbst steuernden Charakter.
Wer Unternehmen durch diese Brille betrachtet, braucht andere „Wahrnehmungsfilter“, konkret die Filter des systemischen Denkens. Zum besseren Verständnis ein Zitat von Fritjof Capra, dem österreichisch-amerikanischen Physiker und Systemtheoretiker:
„‘Systems thinking’ is ‘contextual’ which is the opposite of analytic thinking. Analysis means taking something apart to understand it; systems thinking means putting it into the context of the larger whole.”
Oder wie es Torsten Groth, Berater in Führungs- und Organisationsfragen, ausdrückt:
„Womöglich liegt die größte Wirkung des Systemdenkens im Durchkreuzen der alltäglichen Zurechnungspraxis auf Individuen.“
Ein weiteres Merkmal eines komplexen Systems ist, dass man sich nicht mehr auf „sichere“ Vorhersagen verlassen kann, da die Wechselwirkungen zwischen den Menschen eine eigene und manchmal unerwartete Dynamik entfalten können. Statt sich auf vermeintliche Gewissheiten zu verlassen, geht es vielmehr um einen Prozess des Ausprobierens und der ständigen Anpassung an neue Erkenntnisse und Gegebenheiten.
Es geht schlicht darum, „systemischer“ zu denken und die Organisation als etwas Ganzes, Vernetztes und Unvorhersehbares zu begreifen.
Vor allem aber geht es darum, im Störungsfall nicht reflexartig auf den Menschen zu schauen, sondern auf das System, in dem er agiert und das sein Verhalten unmittelbar beeinflusst. Um diese Perspektive greifbar zu machen, möchte ich gerne das bei mir so beliebte Beispiel der variablen Vergütung im Vertrieb aufgreifen.
Häufig werden wir gerufen, wenn ein Unternehmen nicht mehr mit der aktuellen Ergebnissituation zufrieden ist. Eine der häufigsten Beschwerden, die wir dann zu hören bekommen, ist das Verhalten der Vertriebsmitarbeiter. Diese seien, so die Kritik, trotz aller Ermahnungen, Coachings und Trainings noch immer nur auf den Umsatz fokussiert und achteten überhaupt nicht auf die Marge. Die systemische Perspektive bringt in solchen Fällen schnell die Frage nach der Vergütungsvereinbarung auf. Meist stellt sich danach heraus, dass der Vertrieb vor allem nach Menge oder Umsatz entlohnt wird – und sich einfach nur entsprechend verhält.
Letztlich bestimmt das Spiel das Spielerverhalten und nicht umgekehrt.
Entscheidend ist für uns daher immer die Frage: „Wollen wir am Menschen oder am System arbeiten?“
Nun sind mir beim Schreiben dieses Beitrags direkt weitere Formulierungen zum Hinterfragen von Managemententscheidungen in den Sinn gekommen, doch die möchte ich bewusst nicht aufgreifen. Schließlich möchte ich ja wissen:
Was denken Sie?
Gibt es in Ihrer Praxis bestimmte Managementfragen, die es Ihnen ermöglichen, Entscheidungen gezielt infrage zu stellen und zu verbessern?
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Kommentare
ihren Beitrag kann ich nur unterstützen.
Für das Thema sehr gut zusammengefasst.
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