Multiorganversagen bei VW - und das ist erst der Anfang!

Multiorganversagen bei VW - und das ist erst der Anfang!

Nur wenige Stunden liegen zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Ex-Vorstand Martin Winterkorn wegen der Abgasmanipulation bei Millionen von VW-Fahrzeugen und der Verkündung des Vorstandschefs Oliver Blume, Werke schließen zu müssen und die Beschäftigungssicherung aufzukündigen. Besser hätte man es nicht inszenieren können.
Eine interessante Randnotiz: Der Vorgänger von Oliver Blume, Herbert Diess, musste seinen Job an den Nagel hängen, weil er vor zwei Jahren unter anderem die Frage aufwarf, ob man sich möglicherweise von 30.000 Mitarbeitenden in Wolfsburg trennen müsse.

13. September 2024 um 11:00 Uhr von Ralf Volkmer


Volkswagen, Deutschlands größter Autobauer und weltweit die Nummer 2 hinter Toyota, geht es miserabel. Der Zustand ist lebensbedrohlich, und um im Bild der Medizin zu bleiben, droht der aufeinanderfolgende Ausfall lebenswichtiger Organe - ein Multiorganversagen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit irreversibel ist.
120.000 Menschen waren im Jahr 2023 bei Volkswagen beschäftigt, insgesamt hängen 780.000 Jobs direkt an der deutschen Automobilindustrie und weitere 600.000 (Bäcker, Metzger, Tankstellenbetreiber, etc.) indirekt. Führt man sich diese Zahlen vor Augen, so wird deutlich, vor welcher Herausforderung die 150 Jahre alte Erfolgsgeschichte Auto steht.

Viel zu spät, so die einhellige Meinung aller Experten, hat sich Volkswagen aufgemacht, E-Fahrzeuge in das Portfolio aufzunehmen. Erst nach der Dieselaffäre im Jahr 2015 hat man in Wolfsburg die E-Mobilität „entdeckt“. Im Oktober 2017 lästerte der damalige VW-Chef Matthias Müller auf einer Veranstaltung in Passau unter großem Applaus der Anwesenden noch über Tesla: „Wenn ich richtig informiert bin, vernichtet Tesla pro Quartal einen dreistelligen Millionenbetrag […] Es gibt auf dieser Welt Ankündigungsweltmeister – ich nenne keine Namen – es gibt Unternehmen, die verkaufen mit Mühe 80.000 Autos pro Jahr. VW verkauft elf Millionen in diesem Jahr.

Auch wenn Volkswagen mittlerweile unter großen Kraftanstrengungen bei den E-Fahrzeugen aufgeholt hat, hat die deutsche Automobilindustrie insgesamt in den fetten Jahren verpasst, die Frage zu stellen: „Was kommt nach dem Verbrenner?“ Volkswagen hat in den vergangenen Jahren auf eine Zweifach-Strategie gesetzt, um die Verbrenner-Kuh weiter zu melken, statt in die Entwicklung von Batteriemodulen zu investieren. Batteriemodule müssen derzeit teuer zugekauft werden, und so ist es nicht verwunderlich, dass E-Fahrzeuge in Deutschland nur im Hochpreissegment einigermaßen rentabel hergestellt werden können.
40 % seiner Erträge erzielt Volkswagen in China und ist damit abhängig von einem Land, das mit massiven Subventionen die eigene Industrie unterstützt. Da der Markt dort für teure E-Fahrzeuge hart umkämpft ist, schauen alle, die im Niedrigpreissegment keine Angebote haben, in die berühmte Röhre.

Die wahren Gründe für die Krise seien nicht die Personalkosten, sondern die Fehler des Managements, so die Betriebsratschefin Daniela Cavallo. Der Bezirksleiter der IG Metall, Thorsten Gröger, spricht von einem Tabubruch. Und laut Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) müsse über Alternativen gesprochen werden. Selbst das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, Frank-Walter Steinmeier, äußert sich zu der Krise und mahnte zur Suche nach gemeinsamen Lösungen. Und das „gemeine Volk“ sieht nun die Ampel und ganz generell die Politik in der Verantwortung. Was dabei scheinbar vergessen wird, ist, dass die Automobilindustrie mindestens seit dem Jahr 2018 vor einem gewaltigen Strukturwandel steht. Und „alle“ haben davor die Augen verschlossen, sich selbst belogen und Durchhalteparolen lautstark für den Verbrenner propagiert.

Jeder, der versucht, ein wenig klar zu denken, wird zu der Erkenntnis kommen, dass Produktionsschritte und Beschäftigung, die mit dem alten Antriebsstrang verbunden sind, zur Disposition stehen. Es ist nun mal so, dass E-Fahrzeuge weniger Produktionskapazitäten benötigen. Selbst wenn „morgen“ noch die gleiche Anzahl an Fahrzeugen gebaut wird wie „heute“, so werden schlicht und ergreifend weniger Jobs in der Automobilindustrie gebraucht. Das ist nicht wirklich keine neue Erkenntnis! Dazu kommt, dass Deutschland und Europa für die Automobilindustrie keine Zukunftsmärkte sind. China ist der größte Wachstumsmarkt. Auf 1.000 Einwohner in der Volksrepublik kommen etwas mehr als 100 Autos. Im Vergleich dazu liegt der Motorisierungsgrad in Deutschland bei ca. 570 Fahrzeugen pro 1.000 Einwohner.

„Made in Germany“ ist vorbei, zu hoffen bleibt „German cars made in China“. Doch auch das ist fraglich, betrachtet man die Vielfalt der chinesischen Automarken, welche nicht nur im heimischen Markt mittlerweile tonangebend sind, sondern sich auch nach und nach in Deutschland und Europa ausbreiten.

Wir haben noch ein Jahr, vielleicht zwei Jahre, das Ruder herumzureißen“, sagte Konzern-Finanzvorstand Arno Antlitz auf der Betriebsversammlung bei VW am Montag, während auf den Plakaten der Belegschaft „Hände weg von der Beschäftigungssicherung“ zu lesen war und VW-Betriebsratschefin Daniela Cavallo einen Masterplan mit Meilensteinen für die nächsten zehn Jahre forderte. Was hinter der Aussage der Betriebsratschefin wirklich steckt, ist die Forderung nach noch mehr Subventionierung! Und da das Land Niedersachsen 20 % der Stimmrechte hat, wird das wohl auch so kommen - also die erneute finanzielle Unterstützung aus Steuermitteln. Selbstverständlich auch, weil Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Emdens Bürgermeister Tim Kruithoff (parteilos) sich einhellig dafür aussprechen, dem lahmen Gaul – koste es, was es wolle – wieder auf die Beine zu helfen.

Es ist jetzt Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Standorte, und zwar alle Standorte, gesichert werden und dass betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden“, sagte Hubertus Heil (SPD). Die Bundesregierung zieht nun einen ohnehin geplanten Punkt der 49 im Rahmen des geplanten Wirtschaftspaketes zeitlich vor, nämlich die Subventionierung von Dienstwagen. Das wird (vielleicht) kurzfristig helfen, aber man kann aus einem Ackergaul (mal eben schnell) kein Rennpferd machen.

Zu Robert Habeck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kann man stehen, wie man will - man muss ihn nicht mögen, man kann Entscheidungen, welche in seinem Hause getroffen wurden, doof und falsch finden. Fakt ist, dass er bereits im Mai 2019 die Elektrostrategie von VW kritisierte und mit den Worten „Dann wird Volkswagen scheitern“ prognostizierte.

Ebenfalls im Mai, nur fünf Jahre später - also 2024 - wiederholte Habeck bei #Lanz mit anderen Worten, was die deutschen Autohersteller aus seiner Sicht falsch gemacht haben. Und an diesen Argumenten, die der Wirtschaftsminister hier vorträgt, kann und darf niemand die Augen verschließen.

Der Zustand von Volkswagen, der deutschen Automobilindustrie und auch anderen Wirtschaftszweigen gleicht einem Multiorganversagen. Die Überlebenschance liegt bei 20%, wenn zwei oder drei Organsysteme betroffen sind.



Kommentare

Götz Müller
Götz Müller, am 07. September 2024 um 16:49 Uhr
Die Arroganz von Matthias Müller in 2017 erinnert irgendwie fatal an amerikanische Automobilhersteller und der Reaktion auf den Markteintritt von Toyota in den US-Markt. Etwas vergleichbares gab es im Telekommunikationsmarkt in den frühen 2000er als Reaktion auf Huawei, ZTE, ... Bis auf Ericsson gibt es heute keine europäischen oder deutschen Hersteller mehr.

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