
Mythos Arbeitskräftemangel
Jetzt ist es soweit: Aus dem Fachkräftemangel ist der allgemeine Arbeitskräftemängel geworden. Dass dies so kommen würde, ist seit 15 Jahren klar - reagiert wird aber erst jetzt. So befindet sich Deutschland im Panikmodus und diskutiert Ideen, die am Problem vorbeigehen, weil es die wahren Ursachen des Arbeitskräftemangels nicht erkennt.
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Prozesse sind hierzulande extrem auf Kante genäht. In der Logik der Betriebswirte spart dies Kosten und erhöht deshalb den Gewinn. Redundanzen? Kapazitätsreserven? Fehlanzeige. Bereits kleine Störungen wie ein paar mehr Kunden als erwartet oder anfällige Technik versetzen Systeme ins Taumeln. Die Folge ist ein Dominoeffekt in der gesamten Wertschöpfungskette, mit sich aufschaukelnden Rückkopplungen, deren Behebung aufwendiger ist, als deren Vermeidung gewesen wäre. Mittlerweile ist die Krise der Normalfall; ein ganzes Land legt sich im Wahn der Kostenminimierung selber lahm.
Denn die Strategie, diese Störungen dadurch abzufangen, dass man Mitarbeitern und Kunden Zeit und Nerven stiehlt, geht nur solange gut, bis einem ebendiese Mitarbeiter und Kunden weglaufen. Dieser Moment ist jetzt gekommen. Und das ist gut so.
Sortieren wir erst einmal die Panikreaktionen:
Verlängerung der Wochenarbeitszeit: Dies geht an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei, die einfach nicht mehr arbeiten wollen oder können. Wen wundert dies angesichts der eingangs geschilderten Arbeitsbedingungen?
Späterer Renteneintritt: Das geht eher für die geistigen Tätigkeiten. Aber die es wollen und können machen es bereits.

Import von Arbeitskräften: In ein Land, das die Hochqualifizieren in den letzten Jahren zu Hunderttausenden verlassen haben und das nur noch für Geringqualifizierte attraktiv ist? Unser Wohlstand und unser Wohlergehen werden nicht durch das Sortieren von Koffern an Flughäfen sichergestellt, sondern durch Entwicklung von hochwertigen Produkten, Prozessen und Dienstleistungen. Aber die Leute, die so etwas können, machen einen Bogen um dieses Land oder verlassen es.
Arbeitszeitverkürzung: Davon träumt manch ein Bewohner von Downtown New Work. Motto: wenn Mitarbeiter nur noch vier statt fünf Tage arbeiten, sind sie ja sowas von motiviert, dass sie so viel schaffen, wie heute in sechs Tagen. Ich sage mal: steile These.
Nein: Immer mehr Menschen in schlechte Systeme stopfen und dort immer länger festzuhalten, löst das Problem ebenso wenig wie aufgesetzte Verhätschelungskampagnen. Stattdessen sollten aus schlechten Systemen gute Systeme werden. Wir müssen über Wertschöpfung, Arbeit, Leistung, Effizienz und Effektivität reden. Einem ganzen Land scheint das Gefühl dafür abhandengekommen zu sein. Leistung ist Arbeit pro Zeit. Wer mehr arbeitet, leistet nicht mehr, sondern - arbeitet einfach nur mehr.
Manager, die Mitarbeiter als Kostenfaktor und Manövriermasse sehen, von Leistungssteigerung sprechen, wenn sie immer mehr Arbeit auf ihre Mitarbeiter packen und von ihnen die unbezahlte Extrameile verlangen, haben diesem Thema schweren Schaden zugefügt. Leistung gerät in Misskredit und schreckt ab.
Manager, die weder Prozesse noch Menschen entwickeln, sondern Bullshit-Jobs schaffen: Immer weniger Menschen arbeiten wertschöpfend, aber immer mehr Menschen erklären anderen, wie sie zu arbeiten haben. Auditieren, zertifizieren, koordinieren, evaluieren sind die neuen Traumjobs, deren Einrichtung Manager für Management halten, deren Zweck aber nur darin besteht, die Verantwortung vorbeugend auf Externe abzuwälzen und deren Inhaber sich so wahnsinnig wichtig fühlen dürfen.
Und mitten drin ein Staat, der so seltsam unbeteiligt wirkt, obwohl sein Anteil an dieser Misere gar nicht zu übersehen ist.
Ein Staat, der Unternehmen zu Berichten, Auskünften und Nachweisen verpflichtet und allein dadurch die Arbeitskraft von hunderttausenden hochqualifizierten Menschen bindet.
Ein Staat, der vorschreibt, wie Unternehmen ihre Lieferketten zu gestalten haben, wie mit ihren Daten umgehen ist und nach welchen Kriterien sie ihre Führungspositionen zu besetzen haben, halten auch damit eine zwar unbekannte, vermutlich aber große Anzahl von Menschen in den Unternehmen von wertschöpfender Arbeit ab.
Ein Staat, der Unternehmen damit beauftragt, ihm seine eigene Arbeit abzunehmen - von Gebäudemanagement bis Konzepterstellung – ohne dass er das so freiwerdende Personal für anderes einsetzen würde. Schließlich muss das alles ja koordiniert und auditiert werden.
Ein Staat, der Versorgungsjobs in einem Ausmaß schafft, wie man es nur von Regionen mit ausgeprägter Vetternwirtschaft kennt.
Deutschland muss ausmisten und seine Prozesse auf Effizienz und Effektivität trimmen. Dabei geht es nicht darum härter zu arbeiten, sondern cleverer. Die effizientesten Organisationen sind die mit dem wenigsten Stress – und auch die, bei denen die Digitalisierung nicht ins Leere läuft.
Deutschland braucht Redundanzen und Überkapazitäten an Schnittstellen und dort, wo Kundenkontakt besteht. Unter dem Strich spart dies Aufwand - und Kunden wie Mitarbeiter bleiben gerne.
Deutschland braucht ein Bekenntnis zu Leistung.
Nein, es gibt keinen Mangel an Arbeitskräften, es gibt einen Mangel an verantwortlichem Umgang mit ihnen. Wir verschleudern unsere wichtigste und gleichzeitig knappste Ressource, als gäbe es kein Morgen.
Gibt es auch nicht, wenn wir nicht schleunigst gegensteuern.

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