Komplexität & Dynamik

Komplexität & Dynamik

Wachsende Dynamik und VUCA – also Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität – sind Dinge, die unser Arbeiten heute mehr indirekt prägen als alle Kennzahlen, Prozessoptimierungen und Versuche, best practices zu implementieren.

#leanmagazin
01. März 2017 um 12:23 Uhr in LeanMagazin von Guido Bosbach


Die oben genannten Worte stehen für den globalen und systemischen Einfluß, der in einer intensiv vernetzten Welt immer mehr Raum gewinnt. So viel Raum ,dass wir uns nicht mehr entziehen können und vor allem nicht mehr entziehen sollten. Die ruhigen Fahrwasser, in denen man sich die Entwicklungsrichtung aussuchen konnte werden weniger, der Strom turbulenter. Wo auch immer es damit hingeht – wichtig ist zu verstehen, was da vor sich geht.

Wachsende Dynamik

Dynamik bedeutet „antreibende Kraft oder „innere Bewegung“. Dynamik ist für uns etwas Energiegeladenes, so intensiv, dass es uns schwerfällt, uns ihr zu entziehen. Gruppendynamik und Gruppendruck sind enge Verwandte. Wir Menschen, unsere Ideen und vor allem auch unser immer intensiverer Austausch erzeugen kraftvolle Dynamik und mit der Dynamik auch einen immer schnelleren Wandel.

Waren vor 20 Jahren Bücher, Tageszeitungen und die 20:00 Uhr Nachrichten unsere Hauptinformationsquellen, so haben unsere Erfindungen dafür gesorgt, dass wir heute jede Art von Information ständig empfangen können. Die Welt, die Ereignisse auf ihr und wir Menschen waren noch nie zuvor so eng miteinander verwoben. Information rasen mit Lichtgeschwindigkeit um die Erde. Wir sind Ausgangspunkt und Zielobjekt von immer mehr – teilweise sehr trivialer – Information. Einigen von uns würde ein in den Verstand integrierter Spam- und Relevanzfilter helfen, um diesen Ansturm in geeignetem Maß zu bändigen. Es fällt uns, zumindest ist dies mein Eindruck, zunehmend schwerer uns der Dynamik dieser Dynamik zu entziehen und uns Rückzugsräume zu schaffen oder bewusste Auszeiten zu nehmen. Diese Rückzugsräume sind vielleicht der Antivirus der neuen Zeit.

Doch andererseits können wir an anderen Stellen die Dynamik auch bewusst einsetzen, um unsere Ziele und Visionen zu verwirklichen. Nie war es für so viele so einfach Einfluss zu nehmen. Diese Schnelllebigkeit steht im Gegensatz zum Megatrend „Nachhaltigkeit“, der als Grund- und Lebenskonzept für viele an Bedeutung gewinnt.

Mit dieser Dynamik und in Kombination mit einem zweiten Hauptveränderer – der Komplexität –  entstehen Volatilität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit.

Komplexität

Komplexität entsteht, wenn – mathematisch ausgedrückt – mehr Variablen als Gleichungen vorhanden sind. So entstehen statt einzelner Lösungspunkte ganze Lösungsräume, in denen wir uns zunächst orientieren und unser Vorgehen priorisieren müssen.

Komplexität entsteht auch ganz schnell, wenn zum Beispiel wir Menschen miteinander reden und der eine vor seinem Erfahrungshintergrund etwas anderes versteht, als der andere ausdrücken will, etwa weil er spezielles Wissen voraussetzt. Das Chaos ist vorprogrammiert. Diese eigendynamischen Wechselwirkungen, wenn die Aktion in einem System zu Reaktionen der übrigen beteiligten Systeme führt und unterschiedliche Ergebniszustände entstehen, sind einfach zu verstehen – und total komplex.

Die Natur wimmelt von komplexen Strukturen, denn Komplexität hat eine wichtige Nebenwirkung: Anpassungsfähigkeit. Wer in den letzten paar Millionen Jahren zu wenig anpassungsfähig war, ist ausgestorben.
Ist ein einzelner Organismus für sich ist schon komplex, so birgt das Zusammenspiel, die Interaktion und Kommunikation, noch deutlich mehr Komplexitätspotenzial.

Zurück zur Lösung komplexer Probleme. Durch die immer weitere steigende Menge an Information ist es für uns als Einzelnen kaum mehr möglich alle, diesen Lösungsraum beeinflussenden Parameter, zu betrachten und so den optimalen Lösungsraum zu finden. Arbeiten wir in Gruppen verbessert sich unsere Lösungskompetenz. Gemeinsam besitzen wir viele unterschiedliche Fähigkeiten, Wissen, Erfahrungen und Verhaltensmuster (kulturelle Hintergründe, Generationen, Geschlechter etc. – Stichwort „Diversität“), die wir zur Identifikation der in diesem Moment besten Lösung einbringen können. Die Natur hat uns dies beim Schritt vom Einzeller zu ersten komplexeren Lebensformen bereits in die Wiege gelegt.

Komplexität besitzt eine uns irritierende Eigenschaft: sie zerstört Planbarkeit. Wir können uns zwar auf mögliche Ereignisse im Lösungsraum vorbereiten, eine konkrete „beste“ Option bleibt jedoch unauffindbar. Die Betrachtung von Wahrscheinlichkeiten hilft, die beste Lösung einzugrenzen. Genau dabei helfen uns vielfältige Erfahrungen und verschiedene Perspektiven. Je mehr, desto besser.
Wir brauchen also Kompetenz beziehungsweise die Kombination von Wissen und Erfahrung, um die Vorhersagegenauigkeit zu erhöhen. Dennoch muss, analog zu „Schrödingers Katze“ aus der Quantentheorie, immer mit Unsicherheiten und Überraschungen gerechnet werden.

Die Lösungssuche können wir weiter verbessern, wenn wir beginnen die „Weisheit der Vielen“ zu nutzen und die sehr unterschiedlichen Kompetenzen vielen Beteiligten zusammenzubringen. Der Wettbewerb voneinander unabhängiger Interpretationen der „besten Lösung“ ist dabei zumeist die Grundlage einer „besten“ kollektiven Entscheidung.

Wir können versuchen Komplexitäten zu verneinen, oder „von oben“ einzelne klare Lösungen festzulegen. Das führt uns selten und bestenfalls kurzfristig zum Ziel, zerstört jedoch die  Anpassungsfähigkeit des Systems.

Wenn wir auf komplexe Fragestellungen gemeinsam geeignete Antworten finden möchten, setzt dies maximale Transparenz voraus. Dies stellt jedoch gleichzeitig einen wesentlichen Angstfaktor tradierter Managementstrukturen dar.
Dennoch: Wenn wir in der Gruppe auf Lösungssuche gehen, brauchen wir jede verfügbare Information, so dass jeder auf Basis seines Wissens und seiner Erfahrung seine individuellen Schlüsse daraus ziehen kann. Gelingt es uns den anschließenden Konsolidierungsprozess gut zu moderieren, finden wir so erfahrungsgemäß schnell eine gute Lösung. Echte Partizipation, also die aktive Teilnahme, Teilgabe und Teilhabe ist dabei das beste Mittel, um möglichst schnell alle relevanten Kompetenzträger zu mobilisieren.

Ein Ansatz, der ebenfalls sehr erfolgreich eingesetzt wird ist maximale Selbstorganisation. Die Idee ist banal: Alle Strukturen und Prozesse werden vollverantwortlich in die Hände der Mitarbeiter gegeben. Dies könnte zur vollständigen Überforderung des Systems führen, bringt aber zumeist die Mitarbeiter ins Handeln und erzeugt so echtes Unternehmertum. Der Schritt führt vergleichsweise schnell zum gewünschten Ziel: verbesserter Kommunikation, schnelleren und besseren Entscheidungen sowie einem deutlich verbesserten wirtschaftlichen Ergebnis. Die Erfahrung und Forschung zeigt, dass Selbstorganisation der bislang beste Weg ist „die nötigste, sinnvollste und innovativste“ Lösung innerhalb des komplexen Systems zu identifizieren.
Wenn wir Selbstorganisation initiieren wollen, sollten wir zuvor ein paar Themen geklärt haben. Zum einen hilft es im Vorfeld neue Entscheidungsprozesse zu etablieren, etwa den Konsent oder den konsultativen Einzelentscheid. Beide sind, abhängig von der Größe der Organisation, geeignet schnell gute Entscheidungen zu treffen. Weiterhin werden vermehrt offene Konflikte auftreten. Wenn wir die alles entscheidende und regulierende Führung aus der Struktur herausnehmen, werden zuvor unterdrückte Konflikte sichtbar. Auch mehr Augenhöhe führt zunächst zu mehr Meinungsaustausch. Als Unterstützungsmaßnahme haben sich gruppenexterne Coaches und Konfliktlösungsseminare oder GfK Schulungen bewährt.
Dieser Wechsel deckt auch andere, tief in der Organisation verankerte Grund- und Glaubenssätze auf, die bislang als stabiler Rahmen fungierten. Hier lohnt es zuvor analysiert und verstanden zu haben, wie der Laden läuft.
So aufwändig diese Maßnahmen anmuten, die Erfahrung zeigt, wie sehr sie, auch in „normalen“ Organisationsstrukturen, lohnen.

Komplexität wirkt toxisch auf unflexible Systeme. Genügend große und schnell auftretende Komplexität hat das Potenzial ganze Gruppen zu desorientieren. Sie erzeugt Stress und Angst. Unsere Gehirne werden mit Hormonen – vor allem Adrenalin und Cortisol – geflutet. Das verbessert zwar unsere Blutversorgung in der Muskulatur und bringt mehr physische Kraft, es verringert aber gleichzeitig die Blutversorgung im Gehirn. Damit verbessert sich zwar unsere Fähigkeit zur schnellen Flucht, im selben Moment verringert sich aber unsere Konzentrations- und Denkfähigkeit. Wir versuchen dann verstärkt Situationen auf bekannte Muster zurückzuführen und aus der verinnerlichten Erfahrung heraus intuitiv – und meist alleine – zu entscheiden. Damit können wir als Individuum, wie auch als Gruppe, unsere rationalen Kompetenzen nicht nutzen. Statt also schnell, alleine und unbedacht zu entscheiden, sollten wir zur Ruhe zu kommen, den Stress abbauen und dann gemeinsam Lösungen finden.

In vielen Fällen stellt sich weniger die Frage, was und wie Komplexität sich auf uns (aus-)wirkt, als die, warum wir etwas als komplex ansehen. Jenseits aller Definitionen ist Komplexität etwas sehr Individuelles. „Komplexität“ ist neben dem Fakt, dass ein Geschehnis unterschiedliche Ergebnisse haben kann, zu einem großen Teil auch unserer Wahrnehmung geschuldet. Individuelle Erfahrung und manchmal auch einfach unsere Tagesform beeinflussen stark, ob und wie komplex wir eine Situation wahrnehmen.

In der Gruppe kommt ein weiterer Komplexitätsverstärker hinzu. Wir können noch immer nicht Gedanken lesen und auch bei Emotionen und Wahrnehmungen tun wir uns schwer. Wir sind in unseren Kompetenzen zu unterschiedlich und reagieren verschieden auf unsere Umwelt und Ereignisse. Dies wird heute in vielen Führungssitutationen verneint und wir versuchen eine einheitlich objektive Sicht zu entwickeln. Doch auch aus noch so vielen subjektiven Perspektiven lässt sich nie eine wirklich objektive zusammenbauen.

Komplexität wird sich auch in Zukunft in ihren Grundzügen nicht verändern, sicher ist nur:: Sie wird weiter zunehmen.

Unser Managementverständnis ist in den Grundzügen 150 Jahre alt und hat kaum Raum für die heute und in Zukunft notwendige Komplexitätsrobustheit. Wenn es uns gelingt, unsere Kompetenzen zu erkennen und zielgerichtet zusammenzubringen, haben wir die Chance Komplexität zu meistern und positiv zu nutzen. Die Weisheit der Vielen, Partizipation, Vertrauen, Verbundenheit, Offenheit und Transparenz helfen uns dabei. So können wir Kooperationen erweitern, Stakeholder intensiver mit einbeziehen und Strukturen, Prozesse sowie Entscheidungswege bewusst reflektieren.

Reflexionsfragen

Individualebene

  • Wo habe ich mit komplexen Fragestellungen zu tun, die ich in der Gruppe besser lösen kann oder könnte?
  • Wie reagiere ich auf komplexe Fragestellungen?
  • Brauche ich Rückzugsräume im Auszeiten von meinem dynamischen Umfeld zu nehmen? Wenn ja, welche sind das?

Organisationale Ebene

  • Welchen komplexen Problemen muss sich unserer Organisation regelmäßig stellen?
  • Wo nutzen wir die Kombination der vorhandenen Kompetenzen, um Problemlösungen zu finden?
  • Wie treffen wir Entscheidungen in Situationen in denen wir nicht alle Einflussfaktoren kennen und/oder kennen können?
  • Wie können wir unsere Mitarbeiter im Umgang mit Konflikten besser unterstützen?

Anmerkung des Autors: Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Buch „ArbeitsVisionen2025“.



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