Denken dringend erwünscht!
„Unser time-to-market ist fatal.“ - „Wir finden keine Fachkräfte, die Azubi-Stellen bleiben unbesetzt.“ - „Neue, aggressive Mitbewerber fluten den Markt.“ - „Eigenverantwortung und Motivation unserer Mitarbeiter lassen zu wünschen übrig.“
Die Liste akuter Probleme ließe sich beliebig verlängern. Und sie existiert in fast jeder Organisation, in leichten Abwandlungen. Eine Lösung ist auch schnell zur Hand und zurzeit lautet die:
„Wir müssen agil werden.“ Die Verheißungen sind groß, die Erwartungen ebenfalls.
„Wenn wir agil sind, arbeiten Alle verantwortlicher.“
„Wenn wir agil sind, laufen Projekte schneller.“
„Wenn wir agil sind, bekommen wir die besten Mitarbeiter.“
Und ja, agiles Arbeiten führt in vielen Organisationen zu erwünschten und notwendigen Verbesserungen. Aber eben nicht immer und schon gar nicht garantiert.
Wird Agilität rezeptmäßig angewandt, dann fehlt meist eine essentielle Zutat – die agile Haltung. Zudem wird häufig nur „im gegebenen Rahmen“ gedacht. Es wird cherry picking betrieben und nur die Aspekte werden umgesetzt, die die geringsten „Nebeneffekte“ erzeugen. Agil light sozusagen. Der Ansatz verkommt so zu einem Symptomflickmedikament und wird höchstens als Taktik gedacht. Es ist aber eine strategische, grundlegende Frage und sollte auch so behandelt werden. Die Überlegungen gehören auf die Organisationsebene, nicht auf die der konkreten Problemlösungen oder einzelner Projekte.
Meiner Ansicht nach entsteht der Fehler schon vor dem Auswählen der Rezeptur. Es mangelt bereits an der intensiven Problemidentifikation und der notwendigen Ursachenbetrachtung.
Ein Beispiel: In einem produzierenden Betrieb war die Produkteinführungszeit allen Beteiligten schon lange ein Dorn im Auge. Schnell war die vermeintliche Ursache gefunden, die langwierigen und konfliktreichen Abstimmung zwischen Fachbereich und IT waren schuld, so die Diagnose. Also beschloss man agil zu arbeiten, damit die Menschen näher zusammenrücken. So gab es neue Rollen und die Fachseite ist als Product Owner nun viel intensiver eingebunden. Soweit, so gut, eine Zeit lang. Nach und nach legte sich der Elan bei den Beteiligten, denn in der Organisation überwiegt immer noch das Silodenken und -handeln und konterkariert die agile Zusammenarbeit. Die „Agilen“ kehrten zum alten Verhaltensschema zurück. Das Ergebnis? Time-to-market unbefriedigend lang!
Auch hier ist man in die „Wir brauchen sofort eine Lösung“-Falle getappt. Die Ursache liegt nicht in den langwierigen Abstimmungen, die sind nur das Symptom. Aber das zeigt sich doch immer wieder, muss also das Problem sein? Eben nicht. Zeigt sich ein Ereignis oder Verhalten immer wieder, so ist das ein Trend bzw. ein Muster. Muster sind strukturell bedingt, sie entstehen auf der Ebene der Zusammenarbeit. Um an die Ursache zu gelangen, muss die Frage also lauten: “Welche Strukturen führen zu den langwierigen, nicht nachhaltigen Abstimmungen zwischen IT und Fachbereich?“ So kommt man der Ursache näher, die in diesem Fall in divergenten Zielen der Organisationsbereiche zu finden ist. Die Ziele der IT sind andere, als die der Fachseite und haben beide nichts mit time-to-market zu tun. Da ist es nicht verwunderlich, dass das Thema Produkteinführungsdauer immer wieder auftaucht.
Die Ebenen des Komplexen Denkens, aus: Unkompliziert! Das Workbook für Komplexes Denken und Handeln in adaptiven Organisationen.
„Ja ja, mit ganz viel Zeit lassen sich die tiefliegenden Ursachen finden, wir müssen aber handeln, haben keine Zeit.“ Dieses Totschlagargument begegnet mir immer wieder, ist aber völlig unpassend. Genaugenommen haben die Organisationen in dynamischen Zeiten wie diesen keine Zeit für schnelle Lösungen, die nicht nachhaltig wirken. Sich x-mal mit ein und demselben Problem zu beschäftigen braucht länger, als es einmal ursächlich anzugehen. Und dafür ist nicht mal ein Rezept notwendig, sondern nur eine Zutat: Komplexes Denken.
Den Problemen auf den Grund zu gehen und nicht nur deren Symptome zu flicken bedeutet, genauer zu hinterfragen und hinzuschauen, wodurch die Symptome entstehen.
Dazu braucht es zwingend eine „systemische Brille“, denn wir arbeiten mit sozialen Systemen. Da liegen die Ursachen häufig auf der strukturellen Ebene und sind nicht in den Individuen zu finden. Das gilt genauso für die Lösungen. Von Menschen beispielsweise „saubere, schnelle Abstimmungen“ zu fordern, wenn sie gleichzeitig durch Ziele und Vorgaben davon abgehalten werden, kreiert Ambivalenzen, die es für die Menschen schwermachen und das Problem nicht lösen. Und mit Zielen und Vorgaben sind nicht nur die schriftlich Fixierten, sondern auch die täglich erlebbaren Reaktionen und Sanktionen gemeint. Ist die Ursache eines Problems klar, ist auch die Ebene der Lösung passend. Zum Komplexen Denken gehört Kenntnis von Dynamiken in sozialen Systemen. Menschliches Zusammenwirken ist nicht linear, nicht bestimmbar und entzieht sich der Idee zentraler Steuerung. Es ist immer ein Zusammenspiel vieler rückgekoppelter Ursache-Wirkungs-Kreisläufe, die sich gegenseitig bewirken. Mit grundlegendem Wissen darum, lassen sich schnell gute Hypothesen bilden und Ideen zur Einflussnahme generieren. Dann wird auch klar, warum viele der modernen Rezepte nur kurzfristig Linderung bringen, warum Agilität oft erst einen Hype und dann Ernüchterung produziert.
Komplexes Denken verändert Ihr Managen und Führen grundlegend. Vom reaktiven Reparieren zum proaktiven Gestalten. Denken Sie mal darüber nach.
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