Fluch und Segen der informellen Organisation
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema der informellen Organisation in Unternehmen und fragt, ob diese eingedämmt oder gefördert werden soll.
Die informelle Organisation stellt das soziale Geflecht zwischen den Akteuren in einer Organisation dar.
Ein geläufiger Begriff bei dessen Analyse ist die Mikropolitik. Mikropolitik schließt nach Oswald Neuberger alle alltäglichen „kleinen“ Techniken ein, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird. Sie dient dazu, die eigenen Spielräume zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen. Wir finden sie in einer Schulklasse, am Arbeitsplatz oder in unserem Beziehungsleben. Sie muss nicht notwendigerweise destruktiv sein, sondern kann auch darin bestehen, einer anderen Person eine Freude zu bereiten.
Eine mikropolitische Analyse beschäftigt sich zum Beispiel mit folgenden Fragen. Wieso kam es zu bestimmten Entscheidungen? Welche Ergebnisse sind damit verbunden? Wie wirkt sich dies auf die betrieblichen Strukturen aus? Welche soziale Ordnung ergibt sich daraus? Unsere soziale Wirklichkeit ist immer politisch und Macht ist Teil unserer sozialen Interaktion. Es bestehen immer Wechselwirkungen im System zwischen Struktur, Beziehungen und Organisationsmitgliedern. Wenn zum Beispiel in einem Unternehmen ein neues Kennzahlensystem installiert wird, suchen einige Mitarbeiter nach einem Weg, dieses zu umgehen oder für sich zu nutzen. Wenn das ausgelöste Verhalten der Mitarbeiter nicht den Intentionen der Leitung entspricht, werden höchstwahrscheinlich neue Bestimmungen in Kraft gesetzt, die das Verhalten der Mitarbeiter verändern sollen. Was wieder zu einer neuen Reaktion bei der Belegschaft führt. Die Mitarbeiter reagieren also mit ihren Umgehungstrategien auf die neuetablierte Struktur, worauf das System in Form der Leitung reagiert, indem sie neue Bestimmungen definiert. Was dazu führt, dass wahrscheinlich wieder andere „Wege“ gesucht werden. Die Struktur, die Organisationsmitglieder und deren Beziehungen bedingen sich damit gegenseitig. Das soziale Geflecht in Organisationen, kennt dabei keinen Anfang und kein Ende.
Erich Gutenberg, der Vater der deutschsprachigen Betriebswirtschaft, misstraute der informellen Organisation. Sie sei nicht zu kontrollieren bzw. steuerbar und von daher könnte sie die betrieblichen Abläufe stören und behindern. Deswegen empfiehlt er zu Beginn der 1950 Jahre in seinen „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“ das Einführen von starken hierarchischen Strukturen und Regeln, um die informelle Organisation möglichst von vornherein zu begrenzen. Die Organisation ist für ihn ein Instrument, um eine geplante Ordnung im Unternehmen umzusetzen. Ähnliche Ziele verfolgte Frederick Taylor mit seinem Scientific Management. Mit Hilfe seiner Zeitstudien versuchte er die optimalen Abläufe für einen Arbeitsgang zu finden. Beide wollten damit möglichst den Zufall reduzieren und die Effizienz vorantreiben. Bei vielen der heutigen Managementkonzepte wird im Gegenteil davon ausgegangen, dass eine Leitung nicht mehr alle Schritte selber planen und steuern kann. Die informelle Organisation wird nun mit eingespannt, indem man Rahmenvereinbarungen vorgibt und nicht mehr die Wege, sondern nur mehr die Ergebnisse zur Leistungsbeurteilung heranzieht. Die Verantwortung der Erfüllung wird an die Ausführenden abgegeben. Vertraut wird der informellen Organisation aber immer noch nicht. Dies sehen wir an der beständigen Weiterentwicklung von komplexen Steuerungssystemen, welche permanent messen, vergleichen und kontrollieren.
Organisationen, die durch straffe Optimierungsprozesse gegangen sind, sind heute zumeist rigide durchorganisiert und verfügen oft über wenig Bewegungsfreiheit in Bezug auf die erwarteten Ziele und Wege. Vielleicht gibt es irgendwo im Unternehmen ein oder zwei Querdenker oder Testabteilungen, die für Bewegung sorgen sollen. Diese können sich in einem sonst straffen System aber nicht entfalten.
Daraus erwächst das Problem, dass sich in Organisationen keine Geschichten mehr ereignen. Reinhard Kahl sagt „Geschichten sind das, was sich ereignet, wenn etwas dazwischen kommt“. In einem durchgeplanten System kann nichts mehr dazwischenkommen. Das hört sich zunächst kontraintuitiv an, aber wie wichtig diese Geschichten sind, sieht man daran, dass sie wieder extra über Techniken wie das „Storytelling“ eingeführt werden. Geschichten sorgen nämlich dafür, dass es zu Lernprozessen kommen kann.
Sollten wir nun alle Regeln über Bord werfen? Nein, wenn in einem Unternehmen alle machen was sie wollen, wird es schwierig, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen bzw. die verschiedenen Arbeitsleistungen fortlaufend zu integrieren. Auch besteht die Möglichkeit, dass die Beteiligten (un)bewusst gegen die Ziele arbeiten, um sich Vorteile zu sichern. Also hatte nun Erich Gutenberg recht und sollten wir die informelle Organisation möglichst vollkommen begrenzen? Nein, aus den zuvor genannten Gründen – eine sterile Organisation, welche keine „Geschichten“ mehr kennt, ist nicht lebensfähig.
Das Eindämmen und Fördern der informellen Organisation kann somit keine Einbahnstraße sein. Hierbei kommt vor allem den Führungskräften eine wichtige Rolle zu. Wann gibt man echte Spielräume und wann setzt man Grenzen. Ein gutes Gleichgewicht zu finden und zu leben, braucht viel Erfahrung und Vertrauen.
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