Verschwendung, Regelungswut und die Kunst des Weglassens

Verschwendung, Regelungswut und die Kunst des Weglassens

Das menschliche Hirn kann vieles und vieles davon ist gut. Und doch verwandelt sich Stärke i. Gegenteil und gereicht damit nicht selten z. Nachteil.

Beispiele in sozialen Organisation sind ein an sich begrüßenswertes Netzwerkdenken, welches jedoch in Seilschaften enden kann, die dann nur noch dem Individuum/der Subgruppe, aber nicht mehr dem Ganzen, dienen.

Ein ebenso bekanntes Phänomen, welches zu einer überbordenden Bürokratie führen kann, ist die Fähigkeit des Hirns, Lösungen zu erfinden. Die dabei erdachten Lösungen entstehen durch ein Hinzufügen einer Regel, eines Prozesses, etc.

Doch diese Form d. Lösungsfindung durch Hinzufügen hat auch ihre Schattenseiten. Wir lernen dadurch, in erster Linie Entscheidungen zu treffen, die durch ein Hinzufügen u. Perfektion charakterisiert sind. Wie verlernen dabei zugleich, Entscheidungen zu treffen, die nicht perfekt und vollständig sind.

04. September 2024 um 04:30 Uhr von Bodo Antonic


Bürokratie

Die moderne Gesellschaft wird oft von einem Phänomen beherrscht, das in seiner Allgegenwärtigkeit sowohl bewundert als auch gefürchtet wird: Bürokratie. Die fortschreitende Bürokratisierung scheint ein unausweichlicher Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens zu sein, insbesondere in komplexen Organisationen und Staaten. Dabei geht es nicht nur um den Aufbau und die Strukturierung von Organisationen, sondern auch um die Regelungswut, die oft als notwendige Begleiterscheinung einer komplexen Verwaltung betrachtet wird. Doch was passiert, wenn die Fähigkeit, Lösungen durch das Weglassen von Regeln und Vorschriften zu finden, in den Hintergrund tritt? An dieser Stelle sei daher der Zusammenhang zwischen einer ausufernden Bürokratie, der menschlichen Tendenz zur Regelungswut und der Schwierigkeit, den Weg des Weglassens als Lösungsansatz zu beschreiten.

Bürokratie: Ein notwendiges Übel?

Max Weber definierte Bürokratie als das dominierende Organisationsprinzip moderner Gesellschaften, gekennzeichnet durch eine klare Hierarchie, Regelgebundenheit und Arbeitsteilung. Diese Merkmale haben die Effizienz und Stabilität von Institutionen erheblich gesteigert. Doch gleichzeitig wächst mit der Bürokratie auch die Zahl der Vorschriften und Regelungen, die in einem immer komplexeren System verwaltet werden müssen. Dies führt zu einer regelrechten „Regelungswut“, die die Bürokratie nicht nur aufrechterhält, sondern sie auch verstärkt.  

Der Wunsch, jede Eventualität durch Regeln und Vorschriften abzusichern, mag verständlich erscheinen. Doch je mehr Regeln es gibt, desto schwerer wird es, den Überblick zu behalten und flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren. Der französische Philosoph Michel Crozier beschrieb diese Dynamik in seinem Werk „Le Phénomène Bureaucratique“ (1963), in dem er aufzeigt, wie bürokratische Systeme durch übermäßige Regelungen erstarren können. Diese Starrheit führt letztlich dazu, dass die eigentliche Problemlösungskompetenz der Organisationen leidet.

Der menschliche Geist und das Weglassen

Die menschliche Tendenz, Komplexität durch Hinzufügen von Regeln und Vorschriften zu begegnen, steht im Gegensatz zu einer alternativen, oft übersehenen Strategie: der Kunst des Weglassens. Der Psychologe Barry Schwartz beschreibt in seinem Buch „The Paradox of Choice“ (2004) den Effekt, den eine Überfülle an Optionen auf das menschliche Entscheidungsverhalten hat. Mehr Regeln und Optionen führen nicht notwendigerweise zu besseren Entscheidungen; vielmehr kann die Überlastung mit Vorschriften und Möglichkeiten zu Entscheidungsparalyse führen.  

Die Fähigkeit, zu erkennen, welche Regeln und Vorschriften wirklich notwendig sind und welche gestrichen werden können, ist eine wertvolle Kompetenz, die jedoch in bürokratischen Systemen oft unterentwickelt bleibt. Es ist eine Kunst, die den Mut erfordert, bestehende Strukturen in Frage zu stellen und das Loslassen als eine Form der Effizienzsteigerung zu verstehen.

Regelungswut: Eine unbewusste menschliche Neigung

Die Tendenz zur Regelungswut kann als ein tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit verstanden werden. In unsicheren Zeiten oder in komplexen Systemen neigen Menschen dazu, durch zusätzliche Regelungen und Vorschriften Sicherheit zu schaffen. Diese Neigung wird oft durch die Annahme verstärkt, dass mehr Regeln zu mehr Ordnung und damit zu mehr Erfolg führen. Doch wie der Verhaltensökonom Daniel Kahneman in „Thinking, Fast and Slow“ (2011) betont, führt dies häufig zu einer kognitiven Überlastung, die die Entscheidungsfindung nicht unterstützt, sondern behindert.

In Organisationen kann diese Regelungswut zu einer Kultur der Überregulierung führen, in der Innovation und Flexibilität durch starre Vorschriften gehemmt werden. Besonders in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit wird das Festhalten an bestehenden Regeln oft als sicherer Weg empfunden, während das Loslassen und Vereinfachen als riskant und unsicher gilt.

Die Regelungswut kann damit als Ausdruck der Angst verstanden werden.

Reaktionen auf die Regelungswut in Unternehmen

Unternehmen, die auf eine Überregulierung und die damit einhergehenden negativen Effekte reagieren wollen, müssen sich der menschlichen Tendenz zur Regelungswut bewusst werden und aktiv dagegen steuern. Ein möglicher Ansatz ist die Förderung einer Unternehmenskultur, die das Weglassen von unnötigen Regeln und Vorschriften belohnt. Dies erfordert nicht nur einen Wandel in der Denkweise der Führungskräfte, sondern auch die Schaffung von Anreizsystemen, die Vereinfachung und Effizienz honorieren.

Ein Beispiel für eine solche Strategie ist die „Lean“-Philosophie, die ursprünglich in der japanischen Automobilindustrie entwickelt wurde. Sie konzentriert sich auf die kontinuierliche Verbesserung und die Beseitigung von Verschwendung – und dazu gehören auch unnötige Regeln und Prozesse. Die Idee, dass weniger oft mehr ist, kann zu einer effizienteren und agileren Organisation führen.

Zudem sollte eine offene Kommunikation über die Notwendigkeit und den Nutzen von Regeln gefördert werden. Mitarbeiter sollten ermutigt werden, bestehende Vorschriften kritisch zu hinterfragen und Verbesserungsvorschläge einzubringen. Eine solche Kultur kann nicht nur die Effizienz steigern, sondern auch das Engagement und die Zufriedenheit der Mitarbeiter erhöhen.

Fazit

Die Bürokratie und die damit verbundene Regelungswut sind Phänomene, die tief in der menschlichen Natur und in der Funktionsweise moderner Organisationen verankert sind. Ihre Relevanz für Mensch und Unternehmen ist unbestritten, kann aber in ein ungewüschtes Extremum umschlagen. Sie bieten sowohl Sicherheit und Struktur, können jedoch auch zu einer lähmenden Überkomplexität führen, die die Problemlösungskompetenz von Organisationen und Individuen beeinträchtigt. Um dieser Dynamik entgegenzuwirken, ist es notwendig, den Mut aufzubringen, Regeln zu hinterfragen und das Weglassen als aktiven Beitrag zur Effizienz und Flexibilität zu verstehen. Unternehmen, die diese Prinzipien verinnerlichen und umsetzen, können nicht nur ihre eigene Leistungsfähigkeit steigern, sondern auch eine Kultur der Innovation und des Infragestellen fördern.

Also: Lassen Sie uns nicht nach der perfekten, allumfassenden Lösung suchen, sondern nach einer, die die wesentlichen Anforderungen erfüllt, hinsichtlich ihres Resourcenverbrauchs (Zeit, Geld, etc.) als "sparsam" anzusehen ist.

Wie kriege ich mit möglichst wenig Regeln einen funktionierenden Betrieb hin, der die Wünsche der Kunden befriedigt, die Mitarbeiter zufrieden sein lässt und zudem die Unternehmenskassen füllt?
 

Literaturempfehlung

1. Crozier, M. (1963). *Le Phénomène Bureaucratique*. Paris: Seuil.
2. Schwartz, B. (2004). *The Paradox of Choice: Why More Is Less*. New York: Harper Perennial.
3. Kahneman, D. (2011). *Thinking, Fast and Slow*. New York: Farrar, Straus and Giroux.



Kommentare

Andreas Kopp
Andreas Kopp, am 18. September 2024 um 15:44 Uhr
Ein schöner Artikel, bei dem mir sofort der Standardspruch unzähliger Geschäftsführer:Innen in den Sinn kam:
"als Geschäftsführung steht man immer mit einem Bein im Gefängnis"

Meine Gegenfrage als Berater ist dann immer: "wieviele Geschäftsführungen kennen Sie, die ins Gefängnis gewandert sind, obwohl sie nicht absichtlich, ahnungslos, oder grob fahrlässig gehandelt haben?!"

Natürlich keinen!
Und trotzdem wird bis zum Abwinken weitergeregelt...

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