Wahrscheinlichkeits-Schaum und effektives Management
Dies ist der Auftakt einer Serie von Geschichten zur Einführung in das Viable System Model
Gleich zu Beginn möchte ich Sie zu einem kleinen Gedankenspagat einladen, denn es macht Sinn zuerst ein paar Grundbegriffe des Modells vorab zu klären.
Es gilt weiterhin das Motto: „Mit der Verwirrung über die Verwendung der Begriffe beginnt die Verwirrung in der Organisation.“
Komplexe Probleme lösen – daraus leiten Manager häufig einen wesentlichen Teil ihres Daseinsanspruchs ab und fokussieren sich gerne auf alle möglichen Teilprobleme in ihrem Dunstkreis. Es ist nur allzu menschlich, hierbei den Überblick zu verlieren – schließlich muss man sich ja um alle Details kümmern! Durch diese Überforderung spielt es dann auch keine Rolle mehr, welche Denk- und Organisationsmethoden eingesetzt werden, denn ist man erstmal ordentlich verwirrt, dann irrlichtert man schnell in ineffektiven Verhaltensmustern herum – kommt sich aber blöderweise dabei furchtbar produktiv vor. Schließlich löst man ja Probleme! Und komplex ist es ja auf jeden Fall! Sonst bräuchte man den Manager nicht und die Intelligenz des einfachen Arbeiters würde genügen.
Dieses Muster ist auch als Reparaturdienst-Verhalten bekannt; ein Begriff den Dietrich Dörner in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Logik des Misslingens“ so pointiert eingeführt hat. Kurz gesagt steht dieser Ausdruck für jene Form des Managements, welches sich furchtbar wichtig fühlt, weil es besagte Teilprobleme offenkundig löst – wahre Helden der Arbeit!
Leider wendet man aber nicht einen Blick auf das Ganze, um sich der Wechselwirkungen und Dynamiken der Organisation bewusst zu werden. Man verliert sich im Detail und stochert im Nebel; Trial-and-Error auf hohem Niveau mit partiellen (Schein-)Ergebnissen – stets begleitet vom guten Gefühl bedeutsam zu sein.
Komplexe Wirkgefüge sind in der Tat undurchsichtig und in ihrem Verhalten nur sehr schwer vorhersehbar – meist braucht’s Glück, wenn man mit einer Prognose richtigliegen will. Dennoch kann man in komplexen Systemen wirkende Regelwerke beobachten oder aus verschiedenen Regelwerken eine unterschiedliche Komplexität erzeugen. Diese Einsichten sind dienlich, wenn man komplexe Systeme verstehen will. Und wer ein komplexes System regeln möchte, sollte zunächst eine Vorstellung davon haben, wie viele Zustände ein System einnehmen könnte.
Damit verbunden ergeben sich weitere Fragen: Was will ich überhaupt regeln? Was kann ich überhaupt regeln? Dies sind zwar einfache, aber keine trivialen Fragen. Schon bei der Behandlung dieser Kontexte stößt man zwangsläufig auf den Begriff der Wechselwirkungen, die gemeinerweise auch wieder miteinander wechselwirken können. Außerdem kommt man in diesem Zusammenhang mit Erkenntnissen in Kontakt, die nicht unbedingt der alltäglichen Erfahrung entsprechen.
Was hat das mit Wahrscheinlichkeits-Schaum zu tun?
Im Folgenden möchte ich die Metapher vom „Spiel“ nutzen, um den Zusammenhang von Komplexität, Regeln und daraus resultierenden Wahrscheinlichkeiten darzustellen, sowie einen in der Kybernetik gebräuchlichen Begriff einführen, um diese ominöse Komplexität etwas greifbarer zu gestalten.
Das Spiel der Könige
Schach ist ein Spiel, dem gemeinhin eine hohe Komplexität nachgesagt wird. Zwei menschliche Gehirne sitzen einander gegenüber und versuchen die verschiedenen möglichen Zustände der jeweiligen Spielsituation vorauszudenken – und dabei gleichzeitig die Denkweise des Spielgegners zu berücksichtigen. Im Wesentlichen geht es darum, den entscheidenden Spielzug weiter vorgedacht zu haben, um den Gegner zu besiegen. Es geht also darum, die möglichen Zustände der eigenen Spielfiguren und die des Gegners parallel im Kopf zu jonglieren.
Das Konzept der möglichen Zustände eines Systems wird in der Kybernetik unter dem Begriff Varietät zusammengefasst. Damit erhalten wir eine brauchbare Einheit*, um Komplexität (zumindest zum Teil) messen zu können.
Zurück zum Schach: Im Spiel der Könige sind geschätzt 10^50 Zustände im Spiel möglich – eine durchaus ansehnliche Zahl: Hundert Oktillionen! Diese Anzahl an Zuständen ergibt sich aus 64 Feldern, zwei Spielerfarben und sechs Figuren, welche sich auf unterschiedliche Weise auf dem Brett bewegen dürfen. Hinzu kommen noch ein paar Sonderregeln wie z.B. die Rochade. Man könnte meinen, dass aus relativ wenigen Zusammenhängen ein ungeheurer Möglichkeits-Raum (bzw. Schaum) erschaffen wurde. Ein Wert von Hundert Oktillionen klingt nicht nach Ponyhof.
Da geht noch was
Das japanische Brettspiel Go bietet aber noch ganz andere Dimensionen. Angeblich soll der Möglichkeits-Raum von Go in der Größenordnung von ca. 2,08×10^180 liegen. Der Unterschied des Exponenten beträgt 10^130! Also Oktillionen von Oktillionen. Heidewitzka! Das erfüllt auf jeden Fall den Tatbestand der Kenngröße für Komplexität = Varietät, denn das sind WIRKLICH viele Zustände in einem Spielsystem.
Wie entsteht nun diese enorme Anzahl an möglichen Zuständen im Go? Dafür braucht es ein Brett mit 19×19 Feldern, zwei Farben, einem Steintyp und drei Regeln.
Aus diesen relativ wenigen Elementen heraus explodiert es dann vollends, wenn man den Entscheidungsbaum bei Go heranzieht: Die Varietät beträgt 10^370 (!!!). Nur zum Vergleich: Astrophysiker schätzen das ca. 10^90 Atome im (sichtbaren) Universum existieren. Exponenten bringen die Neuronen wahrlich zum Brutzeln. Es genügen wenige Elemente, um eine sehr hohe Komplexität zu erzeugen.
Dies erklärt auch, warum es einer jahrzehntelangen Erfahrung bedarf, um wirklich gut Go zu spielen. Ich kann nur von meinen eigenen kläglichen Versuchen berichten, immer besser zu verlieren – noch habe ich kein Spiel gewonnen. Als kleiner Einschub: Dies vermittelt hoffentlich auch die Steigerung der maschinellen Intelligenz und Leistungsfähigkeit von Googles AlphaGo.
Varietäts-Management
Aus der Spieltheorie wissen wir, dass schon kleinste Änderungen an Regeln, Variablen oder sonstigen Komponenten erheblichen Einfluss auf die Varietät haben. Und genau dies ist die eigentliche Aufgabe eines Managers: Zuerst die „Spielbedingungen“ zu begreifen und danach die Initiative zu ergreifen. Hin zu einem gesamtheitlichen Verständnis der Bedarfe und Bedürfnisse von Mensch und Organisation und weg von einem hektischen Rumhantieren an einzelnen „Methoden-Ventilen“. Lean Thinking braucht ein ergänzendes systemisches Verständnis auf allen Ebenen: Normativ, Strategisch und Taktisch.
Warum dies für die Organisation komplexer System enorm wichtig ist und wie die Idee der Varietät im Alltag genutzt werden kann, wird im nächsten Teil zur Einführung in das Viable System Model erklärt. Nach #LATC2017 geht es weiter!
*) Es gibt noch viele weitere Beschreibungen für Komplexität! Für die Organisation von lebensfähigen Organisationen erscheint mir jedoch das Konzept der Varietät am nützlichsten. Für die Freunde von Luhmann: Die Idee der Anschlussfähigkeit lässt sich m.E. leicht mit dem Begriff Varietät integrieren.
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