Blinder Fleck „LeanOffice“ – ein Kommentar
Vor einigen Tagen an einem Sonntag rief Dr. Winfried Felser mich und Gunnar Sohn auf meinem Facebook-Account zur Diskussion auf der Basis einer Studie von Dagmar Bürkardt und Bettina Seibold vom IMU Institut auf und verlinkte dabei auf einen Beitrag von Gunnar Sohn auf ichsagmal.com.
Die sich daraus sich ergebende, „sonntägliche“ Diskussion hatte ich dann wohl dadurch ausgelöst, dass ich den Beitrag von Dr. Winfried Felser wie folgt kommentierte:
„Winfried Felser, wenn die Dame dies so „gesagt“ hat, dann ist das mit Verlaub #Bullshit! Alleine Lean und Agile auf eine Ebene zu stellen, zeigt die Ahnungslosigkeit. Auch über den Begriff Effizienz Lean zu verstehen, ist ein gern genutztes Argument. Alle, die Lean richtig verstehen, stellen deshalb die Effektivität in den Vordergrund. Falsche Dinge effizient zu erledigen, ist nicht der Grundgedanke von Lean!
Von einer Mitarbeiterin eines Medienforschungsinstitutes kann man wahrscheinlich aber auch nicht mehr erwarten als die bloße Verallgemeinerung.“
Okay, das Wort #Bullshit hätte ich nicht verwenden müssen, doch war dies scheinbar der Auslöser der teilweise „emotionalen“ Diskussion, aus welcher ich mich zunächst bewusst herausgehalten habe. Die Gründe hierfür möchte ich nachfolgend gerne erläutern.
Die oben genannte Studie aus dem Jahre 2015 erfolgte im Auftrag der Hans Böckler Stiftung und der IG Metall Bezirksleitung Baden-Württemberg, nicht dass ich dies hier wertend meine, aber man sollte es wissen, denn diese Studie dient zudem als Endbericht hinsichtlich des Forschungsprojekts mit der Nr. S-2014-772-1.
Das Ziel des Projektes war unter anderem Anhaltspunkte zu finden, wie sich der Stand der Entwicklung von Lean-Konzepten auf breiter Ebene darstellt und welche Rolle Lean-Konzepte in Bürobereichen spielen. Die Autorinnen legen dabei „… eine sehr breite, pragmatische Definition von Lean Office zugrunde“ und verstehen unter Lean-Office „alle Entwicklungen in den Bürobereichen von Fertigungsunternehmen (auch an Entwicklungsstandorten von solchen), die sich am Toyota-Produktionssystem orientieren“ Und genau darin sehe ich – wenn Sie so wollen – das Problem Nummer 1, denn wer Lean so einschränkt und dies in Verbindung mit dem Toyota-Produktionssystem bringt, macht aus meiner Sicht einen grundlegenden Fehler und befeuert alte Denkmuster. Warum? Weil ich sehr wohl zwischen Lean, Kaizen und KVP unterscheide. Dies insbesondere, da Lean eine „Worterfindung“ von James P. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos ist und seinen Ursprung in dem Buch „Die zweite Revolution in der Automobilindustrie“ vor mehr als 25 Jahren hat. Im Übrigen gab es zu diesem Zeitpunkt den Begriff Lean lediglich als Wortergänzung zu Production. Alle weiteren Wortergänzungen wie zum Beispiel Lean Office, Lean Hospital, Lean Development etc. sind im Wesentlichen Erfindungen des Top-Management und von Unternehmensberatern.
Erst mit dem Begriff Lean Management wurde versucht, eine Art Führungsphilosophie zu beschreiben. Wer sich ernsthaft mit dem Begriffsmatsch und dem Ursprung der Begriffe auseinandersetzt, wird schnell erkennen, dass Womack, Jones und Roos nur das beschrieben haben, was für sie sichtbar war – mit großer Wahrscheinlichkeit also effiziente Prozesse, nicht mehr und nicht weniger. Wer jetzt – wie die Autorinnen – Lean mit dem Toyota-Produktionssystem – und hier sehe ich das Problem Nummer 2 – gleichsetzt, gießt wie viele andere einfach nur Öl in das bereits und seit Jahren lodernde Feuer.
Das Toyota-Produktionssystem (TPS) ist das Ergebnis jahrelanger Entwicklungsarbeit von Taiichi Ohno und eben NICHT, wie dies (hier exemplarisch eine „Definition“ von REFA) häufig interpretiert wird, ein „ein Produktionsverfahren für die Serienproduktion, bei der die Produktivität der Massenproduktion mit den hohen Qualitätsansprüchen der Werkstattfertigung verbunden wird.“ Das TPS zeichnet sich eben im besonderen Maße durch ein hohes Maß an Führungsqualität aus. Im TPS, um nur einen aber wesentlichen Unterschied hier zu nennen, steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht der Roboter!
Natürlich geht es auch bei Toyota um Effizienz, aber eben und insbesondere um Effektivität. Toyota würde jederzeit ein Lager aufbauen, wenn es zum Kundennutzen beiträgt. Also Verschwendung im Sinne der 7 Verschwendungsarten erzeugen, sich damit aber niemals zufrieden geben und alles dafür tun, um das Lager abzuschaffen oder jedenfalls dieses im erheblichen Sinne zu reduzieren. Nicht grundlos gibt es bei Toyota beispielsweise den Begriff Nemawashi, welcher (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) bedeutet, ob ich als verantwortlicher Abteilungsleiter einer Organisation bereit bin, einen Mehraufwand zu akzeptieren, wenn alle davon überzeugt sind, dass es dem Gesamtprozess und damit insgesamt dem Unternehmen und in der Folge dem Kunden etwas bringt. Hier geht es, wie man unschwer erkennen kann, um innere Haltung völlig befreit von dem in den meisten deutschen Organisationen üblichen Silodenkens.
Und nochmals, wer sich ernsthaft mit all den unterschiedlichen Begriffen auseinandersetzt, wird zu folgender Erkenntnis kommen:
Lean ist …
- flach/schlank
- kundenorientiert
- kurze Wege beim Tun und Entscheiden
- Fokus auf Wertschöpfung
- Sicht auf den Gesamtprozess
Kaizen ist …
- Fehler erlauben und diese als Hinweis zur Verbesserung begreifen
- sich selbst ständig und immer zu hinterfragen
- Verbesserung in kleinen Schritten
- das Ganze steht über dem Einzelnen
Und der Vollständigkeit halber sei noch zu erwähnen, dass KVP nicht gleich Kaizen ist. KVP bedeutet nicht mehr und eben auch nicht weniger als das Denken in kleinen Schritten und das Aufdecken von Verschwendung.
Die in dem vorliegenden Endbericht getroffen Aussagen beziehen sich auf Interviews mit insgesamt 23 Betriebsräten und Systemexperten aus 12 Unternehmen und zusätzlichen Erfahrungen von Betriebsratsmitgliedern. Und genau hier sehe ich das Problem Nummer 3. Zwar schreiben die Autorinnen selbst, dass die Interviews kein repräsentatives Bild ergeben, doch tragen m.E. eben genau auch solche „Studien“ dazu bei, dass sich das Bild über den Begriffsmatsch von Lean, Kaizen, KVP & Co. nicht grundlegend verändert. Selbstverständlich verstehe ich, und auch darin sehe ich eines der Kernprobleme, dass das Top-Management in zahlreichen Organisationen ausschließlich Lean als die Anwendung von Methoden im Sinne der Produktivitätssteigerung begreift. Ich selbst habe immer wieder diese Erfahrung in meinem nunmehr mehr als 30jährigen Berufsleben gemacht. Da wird schnell 5S genannt, wenn die Frage gestellt wird, welche „Maßnahmen“ bereits im Kontext zu Lean, Kaizen, KVP & Co. erfolgten. Auch verstehe ich, dass von Betriebsratsmitgliedern Lean, Kaizen, KVP & Co. mit Rationalisierungsstrategien und Beschäftigungsabbau gleichgesetzt wird. Daran trägt meine eigene Berufsgilde einen nicht unwesentlichen Anteil! Doch, und hier kommt aus meiner Sicht das Problem Nummer 4, wünsche ich mir, dass Arbeitnehmervertretungen nicht in das gleiche Horn blasen, denn dies ist nicht hilfreich. Wer dann auch noch die „steigende Verbreitung von Shared Service Center“ und die dahinterliegenden IT-Lösungen als Werkzeugkasten für „Personalarbeit, Reisekostenabrechnungen, Finanzbuchhaltung oder Rechnungsstellung“ – wohlgemerkt im Kontext zu Lean – beschreibt, „schürt Angst“ und wird am Ende nichts bewegen. Ich sehe die Arbeitnehmervertretungen, wie viele andere eben auch, in der Pflicht, darauf zu bestehen, dass Lean, Kaizen, KVP & Co. „richtig“ ankommt in den Organisationen – das Betriebsverfassungsgesetz bietet hierzu hinreichend Möglichketen.
Ein Grund mehr, weswegen ich das Wort #Bullshit in meinem Post auf Facebook verwendete, bezog sich auf das folgende Zitat des Soziologen Johannes Böhme (nachzulesen hier): „Jeden Tag treffen sich die Mitarbeiter vor einer Tafel, auf der ihre Arbeit in verschiedenen Farben abgebildet wird. Jeder muss kurz sagen, wie es bei ihm steht, und dann wird das übersetzt in Rot oder Grün. Rot heißt, dass Deadlines nicht eingehalten, Kosten überschritten, Probleme nicht gelöst werden.“ Gemeint ist hier wohl Shopfloor Management. Zugegeben auch ich erlebe in 90% der Fälle, dass Shopfloor Management schlicht falsch angewendet und vor allem falsch verstanden wird. Dies jedoch zu verallgemeinern, halte ich für fatal und nochmals für nicht hilfreich in der Sache.
Außerdem sagte Böhme in dem Interview bei „brandeins Magazin“ das Folgende:
„Der „Wandel“ trage dabei verschiedene Namen wie „lean“ oder „agile“. Immer gehe es darum, die Arbeit in den Büros schneller, besser und effizienter zu machen.“
Wer Lean, Agile und Scrum, völlig befreit von Realität ohne sich damit auseinanderzusetzen, in einen Topf wirft, handelt verantwortungslos. Dies ist natürlich nur meine Meinung und ich bin mir auch bewusst darüber, dass nicht alle meine Meinung teilen. Doch empfehle ich in diesem Zusammenhang zwei Artikel von zwei von mir sehr geschätzten Kollegen.
- Agilität hat mit Haltung zu tun, nicht mit Methodik von Conny Dethloff
- Alle wollen plötzlich agil sein. Aber warum eigentlich? von Dr. Mario Buchinger
Ein weiterer Grund für das von mir benutzte Wort #Bullshit ist die Antwort von Johannes Böhme auf die Frage des Moderators, wo der Lean-Ansatz herkommen würde.
„Ursprünglich kommt der [Lean-Ansatz] von Toyota […] Im Grunde war auch dort die Idee, Arbeitsschritte wegzulassen.“
Diese, wie auch viele andere Vereinfachungen beispielsweise im Kontext zu Führen bis hin zu folgender Aussage „Lean sei vor allem ein Mittel, um aus den Leuten mehr rauszuholen“, wie Bettina Seibold vom Institut für Medienforschung und Urbanistik in Stuttgart in dem Beitrag von Gunnar Sohn zitiert wurde, ärgern mich noch immer, auch wenn ich versuche, gelassen zu bleiben. Jedoch hatte ich mich aufgrund der zuvor hier aufgeführten Beweggründe nicht mehr weiter an der sonntäglichen Diskussion beteiligt.
Zu hoffen bleibt, dass alle den Versuch unternehmen, sich mit den jeweiligen Begriffen tiefer auseinandersetzen, um so zur besseren Einordnung des Begriffsmatsches beizutragen.
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