99 Jahre REFA: Ein Relikt der Industrialisierung?

99 Jahre REFA: Ein Relikt der Industrialisierung?

Es ist Ironie der Geschichte: Fast 100 Jahre lang hat REFA die Rationalisierung in der deutschen Industrie angeheizt. Jetzt hat der Verband selbst die Sorge, Opfer dieses Prinzips zu werden. Die smarte Fabrik und die datengetriebene Industrie drohen, die Arbeitskraft in den Produktionsstätten zu marginalisieren. Wo aber kein Mensch ist, kann REFA seinen Auftrag nicht erfüllen. Eine kritische Würdigung zum 99-jährigen Jubiläum.

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Podcast, am 28. 02. 2023 in LeanMagazin von LKB Redaktion*)


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Heute beschreibt sich REFA als ein „Verband für Arbeitszeitgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung“. Doch der Name selbst ist ein Akronym, ein Kunstwort, das sich aus den Anfangsbuchstaben anderer Wörter zusammensetzt: Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung. Er verrät, dass REFA älter ist als die Bundesrepublik Deutschland. Gegründet wurde er 1924. Erst im Nachkriegsdeutschland wurde er 1951 zu einem Verband.

REFA blickt auf eine 99-jährige Geschichte. Damit begleitet der Verband fast über die Hälfte der industriellen Epoche deutsche Unternehmen. Der Beginn der Industrialisierung in Deutschland wird Historikern zufolge auf 1830 datiert. Stellt sich die Frage, wie zeitgemäß REFA nach so einer langen Zeit ist. Besonders mit dem Blick in die Zukunft. Fortgeschrittene Industrieunternehmen fußen auf einem epochalen Wandel. Die Arä rauchender Hochöfen, lärmender Fließbänder und riesiger Maschinenhallen, die das Stadtbild prägten, gehören der Vergangenheit. Manche Produktionsstätten sind inzwischen Museen. Andere sind Freizeitstätten gewichen.

Der Mensch gilt als unzuverlässig

Im Kern erbringt REFA eine zentrale Leistung: Zeiterfassung durch so genannte Industrial Engineers. Sie sind Fachleute für die Optimierung von Prozessen und Gestaltung von Arbeitsabläufen in Industrieunternehmen. Was sich einfach anmutet, ist kompliziert. Sie ist zwar nicht wissenschaftlich fundiert, aber empirisch hinreichend, um seinen Zweck zu erfüllen; Zeitdaten in der Produktion zu erfassen, um hieraus Erkenntnisse über die Geschäftsprozesse und Produktionsabläufe zu gewinnen. Die Herstellung von Produkten wird planbar, steuerbar und kontrollierbar. So zumindest der Anspruch. Damit war REFA federführend beteiligt, standardisierte Fertigungsverfahren einzuführen und die Akkordarbeit zu etablieren.

Die Unternehmensführung ist in der Lage, die Leistung einer Arbeitskraft besser zu bewerten und so ihre Entlohnung betriebswirtschaftlich abzubilden. Beste Grundlage für die Massenproduktion, in der die Fixkosten pro Stück, hyperbolisch, wie es Fachleute nennen, abnehmen. Alle Kosten, die man verlässlich und dauerhaft in Geldeinheiten darstellen kann, sind erwünscht. Dies galt für Materialbestellungen, Lagerhaltung und für die Arbeitskraft des Menschen. Er gilt als unzuverlässig und arbeitet nicht berechenbar, wie man es einer Maschine oder einem Produktionsroboter unterstellt. Man kann sagen: REFA heizte das Prinzip der Rationalisierung an.

Lean Management als Lösung für den Arbeitskräftemangel

Doch den Verantwortlichen bei REFA war klar oder wurde durch die Betriebsräte innerhalb der Unternehmen und durch die Gewerkschaften klargemacht, dass ein Mensch keine Maschine ist; er widerstrebt der Rationalisierung. In einem Artikel für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung heißt es: „Die Gründung des Reichsausschusses für Arbeitszeitermittlung durch den Gesamtverband deutscher Metallindustrieller hatte mit der Verfolgung eines ‚gerechten Arbeitslohnes‘ zugleich zum Ziel, über die Einführung von Zeitakkorden die Verhandlungsspielräume der Gewerkschaften und Betriebsräte beim klassischen Geldakkord zu beseitigen. Den Gewerkschaften sollte nur die Verhandlung über die Tariflöhne bleiben. Eine solche Politik mußte die Gewerkschaften zwangsläufig zu Gegnern so angewandter Arbeitsstudien machen. Die Auseinandersetzungen waren in den USA besonders heftig“. Die reine Zeiterfassung wurde zwar nicht aufgegeben, jedoch um arbeitsphysiologische und - psychologische Erkenntnisse erweitert.

Aktuell erfährt die Arbeitswelt gravierende Veränderung. Dazu gehört wesentlich der demografische Wandel. Mit ihm geht ein erheblicher Arbeitskräftemangel einher, der sich in den nächsten Jahren zuspitzen wird. Seit 2020 verlassen immer mehr Angehörige der Babyboomer Generation den aktiven Arbeitsmarkt. Ihnen folgen aber nicht genug arbeitsfähige Erwachsene. Der Mönchengladbacher Prof. Dr. Andreas Syska ist ein Verfechter des Arguments, dass Lean Management Produktivitätseffekte mobilisiert, um die Lücken durch den Arbeitskräftemangel zu kompensieren. Dafür muss Deutschland „ausmisten und seine Prozesse auf Effizienz und Effektivität trimmen. Dabei geht es nicht darum, härter zu arbeiten, sondern cleverer. Die effizientesten Organisationen sind die mit dem wenigsten Stress – und auch die, bei denen die Digitalisierung nicht ins Leere läuft.

Die Rolle des "Industrial Engineers" verändert sich

Die Digitalisierung ist eine weitere Kraft, die nicht nur die Arbeitswelt auf den Kopf stellt. Die Innovationszyklen werden immer kürzer, was heißt: Die Entwicklungs- und Produktionszeiten von Waren haben sich beschleunigt. Gleichzeitig erlebt die Produktion eine enorme Flexibilisierung durch den gewachsenen Kundenwunsch nach mehr Vielfalt - Stichwort: Mass Customization. Henry Fords Zitat: „Sie können einen Ford in jeder Farbe haben, Hauptsache er ist schwarz.“, begeistert keinen Kunden heute mehr. Er legt Wert auf Individualität hinsichtlich Ausstattung, Design und Bedienung. Am besten konfiguriert er sein begehrtes Objekt am Frühstückstisch nach Größe, Form und Farbe und schickt seine Bestellung anschließend per Druck auf den Button.

Hierdurch haben sich die Aufgaben des Industrial Engineers erheblich verändert: War er früher häufig nur für die Zeitaufnahme in der Produktion zuständig, so ist er inzwischen für Optimierungsaufgaben innerhalb des gesamten Unternehmens verantwortlich. Zu lösen sind zum Beispiel Fragen hinsichtlich der Beherrschung der zunehmend turbulenten Prozesse oder der ergonomischen und zugleich wirtschaftlichen Gestaltung von Produktion und Arbeit. „Gefragt sind zukünftig Fach- und Führungskräfte, die gelernt haben, sich bei Bedarf stets neu zu spezialisieren“, so Frau Dr.-Ing. Patricia Stock, Institutsleiterin des REFA-Instituts.

Verdrängen Software und Algorithmen den Menschen?

Das Industrial Engineering ist der Schlüssel für die Lösung dieser Fragestellungen, davon ist REFA nach wie vor überzeugt. Es besteht in der Anwendung von Methoden zur ganzheitlichen Analyse, Bewertung und Gestaltung komplexer betrieblicher Systeme, Strukturen und Prozesse. Um diese Aufgabe adäquat zu erfüllen, ist somit neben der Fach- und Methodenkompetenz zwingend Systemkompetenz erforderlich. Da der Industrial Engineer eine Schlüsselposition zwischen der Geschäftsführung und den Mitarbeitern einnimmt, muss er ferner Sozial- und Persönlichkeitskompetenz besitzen.

Der Blick in die zahlreichen Publikationen von REFA und seinen Gliederungen führen vor, dass der Verband auf der Suche nach seiner Rolle in einer Industrie ist, die sich grundlegend wandelt. Es ist nämlich erstaunlich: In der Geschichte leistete REFA seinen Beitrag, dass das Prinzip der Rationalisierung sich in den Industrieunternehmen durchsetzt. Inzwischen ist es nicht nur der Roboterarm, der den Menschen in der Produktionsstätte ersetzt. Vielmehr findet eine Mensch-Maschine-Interaktion statt, die möglich ist, weil Roboterarme mehr Sensoren tragen und über die erforderliche Rechnerleistung verfügen,  um große Menge an Daten in Sekundenschnelle zu verarbeiten und in Echtzeit umzusetzen. Diese und weitere Technologien wie etwa Virtual Reality, aber allen voran die herausragende Bedeutung von Software und Algorithmen drohen die menschliche Arbeitskraft in den Fabriken zu marginalisieren.

Ironie: REFA - Opfer seiner eigenen Rationalisierung?

Und die Ironie ist: Verschwindet der Mensch, wird REFA überflüssig. Zumindest muss er seinen Platz in der zukünftigen Wirtschafts- und Arbeitswelt rechtfertigen. Ein solcher Versuch stellt der Themenblog des REFA-Instituts dar. In 11 umfangreichen Artikeln wird gebetsmühlenartig die Botschaft wiederholt: „Wenngleich Digitalisierung und Industrie 4.0 den betrieblichen Arbeitsalltag zunehmend beeinflussen werden, so können Algorithmen und Programme den Menschen nicht ersetzen und erst recht nicht führen.Ist das so?

2024 wird REFA 100 Jahre alt. Es bleibt spannend, ob er in den nächsten 100 Jahre Opfer der weitergehenden Rationalisierung in der deutschen Industrie wird, die er in den vergangenen 99 Jahren selbst angeheizt hat.

*) Mit der Erstellung dieses Textes wurde von uns das futureorg institut beauftragt, welches wiederum Herrn Kamuran Sezer hiermit beauftragt hat.



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