Über die Kunst des klugen Weglassens: Wie man hausgemachter Bürokratie zu Leibe rückt

Über die Kunst des klugen Weglassens: Wie man hausgemachter Bürokratie zu Leibe rückt

Agiler, digitaler, innovativer: wesentliche Aspekte, um als Unternehmen die Zukunft erreichen zu können. Doch die Mitarbeiter ersaufen in Bürokratie. Um Zeit und Raum für Neues zu schaffen, müssen zunächst die Altlasten weg. Transformation Taskforces, ein „Minus50“-Programm und „Kill a stupid rule“ setzen genau an diesem Punkt an.

#leanmagazin
am 21. 12. 2021 in LeanMagazin von Anne M. Schüller


Die Reise in die Zukunft gelingt nur mit leichtem Gepäck, weil die Märkte, wie die Hasen, immer neue Haken schlagen. Für Planzahlspiele, Reporting-Exzesse, aufwändige Abstimmungsschleifen und Irrläufe im Vorschriftengeflecht hat niemand Zeit. Regeln, Standards und Normen von früher lähmen das Vorankommen, frustrieren die Mitarbeiter und verärgern die Kunden. Deshalb ist zunächst eine Transformation in einen agileren Zustand vonnöten.

Alles, was eine Organisation langsam macht, muss schleunigst weg. Und alles, was sie schnell macht, muss her. Denn je schwerfälliger eine Organisation, desto anfälliger ist sie für Überholmanöver. Doch klassische Managementformationen sind die meiste Zeit damit beschäftigt, sich selbst zu organisieren. Prozessbesessenheit, Zielfetischismus und Kennzahlenmanie sind eine kolossale Verschwendung von Zeit, Geld und Talenten, die sich niemand noch länger leisten kann.

Bürokratie macht ein Unternehmen träge und dumm, weil alles einem vordefinierten Weg folgen muss und in starren Verfahrensweisen versinkt. Standards erzeugen zudem Isomorphie: Alles gleicht sich immer mehr an. Doch nur das Besondere, Faszinierende, Bemerkenswerte hat eine Zukunft. Bei Vergleichbarem hingegen entscheidet allein der Preis. Dann soll es wenigstens billig sein. Für die Bilanz ist das verheerend.

Bürokratieabbauprogramm „Minus50“

Im Eilschritt die Zukunft erreichen bedeutet zuallererst: rigide Strukturen lockern, Altlasten entsorgen und Hürden entfernen, um flotter laufen zu können. Die Schnelligkeitslücke muss eiligst geschlossen werden. 50 Prozent weniger Bürokratie, Administration, Regelwerke, Statusberichte, Formulare und Genehmigungsverfahren sind dabei eine vernünftige Zielzahl. „Minus50“ nenne ich dieses Programm.

Hiermit sind allerdings nicht die gesetzlichen Regularien und behördlichen Vorschriften gemeint, sondern überholte interne Unternehmensroutinen. Ganz ohne Strukturen geht es natürlich nicht, schon allein deshalb ist „Minus50“ vernünftig. Einleuchtende Funktionsvorgaben sichern ein notwendiges qualitatives Leistungsniveau. Und sie helfen, böse Fehler zu vermeiden. Solche Prozesse sind kluge Prozesse.

Dumme Prozesse hingegen verplempern wertvolle Zeit. Zudem sorgt Bürokratie für Selbstvermehrung. Jeder Ausrutscher hat eine weitere Regel zur Folge. Am Ende wird das Ganze derart komplex, dass alles wie in einem Panzer erstarrt und jeder nur noch nach Vorgaben tanzt. Doch vorgeschobene „Zuständigkeiten“ und „Dienst nach Vorschrift“ goutieren die Kunden mit Sicherheit nicht.

Ein ausuferndes Berichtswesen gibt einem zudem gute Gründe, sich von den Kunden abzuwenden, frei nach dem Motto: "Würde nicht so viel Zeit mit dem Reporting draufgehen, hätte ich mehr Zeit zum Verkaufen." Und jeden Freitag ist Märchenstunde: Der Wochenbericht muss geschrieben werden. „Irgendwann habe ich den einfach nicht mehr abgegeben – und niemand hat ihn vermisst“, erzählt mir ein Vertriebsmitarbeiter.

Transformation Taskforces aktivieren

Um sich per „Quick Wins“ für die Zukunft zu rüsten, werden schnell losstürmende Einsatzkräfte benötigt. Solche Sturmtrupps nenne ich Transformation Taskforces (TTs). Sie gehören zu keiner Business Unit, sondern agieren crossfunktional. Sie gehen quer durch das gesamte Unternehmen auf Entschlackungstour und interne Bürokratiemonsterjagd. Denn Bürokratie muss interdisziplinär abgebaut werden.

Entscheidend bei einem solchen Projekt:

  • Die Taskforce darf von Bereichsleitern nicht an ihrer Arbeit gehindert werden.
  • Von aufgezeigten Widerständen, die aus allen Ecken kommen werden, darf man sich nicht blenden lassen.
  • Die Teams müssen selbstorganisiert arbeiten können, damit sie schnell Fahrt aufnehmen und entscheidungsfrei sind.
  • Verzichten Sie auf aufwendige Berichtsmaßnahmen und umfängliche Kontrollaktivitäten.
  • Lassen Sie Experimente und Irrwege und damit auch Fehlschläge zu.
  • Die unbedingte Rückendeckung der Geschäftsleitung ist essenziell.
  • Lassen Sie solche Projekte nie von einer externen Beratercrew machen.

Beim Bürokratieabbau können nicht nur die erfahrenen Mitarbeiter helfen, sondern vor allem umtriebige junge Talente aus dem Kreis der Millennials. Warum? Sie haben einen unverstellten Blick und den immanenten Drang, die Dinge frischer, agiler, kollaborativer und digitaler zu machen. Zudem sind sie mit modernen Methoden der Zusammenarbeit meist bestens vertraut.

Einsatztrupp auf Bürokratiemonsterjagd

Ein Bürokratie-Transformationsteam kann sich um überholte Abläufe quer durch das ganze Unternehmen kümmern. Zum Beispiel so: „Bisher dauert die Abwicklung von x eine Woche. Wie schaffen wir das in einem Tag?“ Oder so: „Bisher brauchte die Dokumentation von Vorgang y zehn Seiten. Wie gelingt das in zehn Sätzen?“ So kann man Verfahren digitalisieren, Komplexität reduzieren, Tempo machen, mithilfe agiler Tools die Effizienz nachdrücklich steigern und deutlich mehr Wertschöpfung erzielen.

Oha, Sie meinen, die einzelnen Abteilungen sollen sich selbst um Effizienzzuwächse kümmern? Genau das wird nicht klappen. Ausufernde Verfahrensweisen und Vorschriftenberge sind Selbsterhaltungsmechanismen. Sie untermauern die Wichtigkeit und dienen der Bedeutungserhöhung. Durch einen Verwaltungsapparat, der letztlich vom Kunden bezahlt werden muss, und eine aufgeblähte Vorgaben- und Steuerungsadministration schaffen sich viele Bereiche überhaupt erst eine Existenzberechtigung. Das blockiert nicht nur, es verhindert auch Innovationen.

Für die, die Entschlackungsprogramme in Angriff nehmen, hier gleich ein Tipp: Fangen Sie im Einkauf, in der juristischen Abteilung und im Controlling an. Da wird man besonders schnell fündig. Zum Beispiel habe ich im Vorfeld eines Vortrags einmal ein fünfseitiges (!) Pamphlet bekommen, dass sich Vertraulichkeitserklärung nannte. Natürlich habe ich bei meiner Arbeit mit strategischen Interna zu tun. Dass ich davon nichts weitergebe, ist eh klar. Ist unbedingt etwas Schriftliches vonnöten, kann man das in wenigen einfachen Sätzen sagen, die auch ein Nichtjurist prima versteht.

Entrümpeln mit „Kill a stupid rule“

„Kill a stupid rule“ wurde ursprünglich von US-Banker Vernon Hill entwickelt. Eine ideale Ausgangsfrage ist dabei diese: „Kill a stupid rule!“ Von welchen untauglichen Standards, Regeln und Verfahren und von welchem administrativen Unsinn sollten wir uns schnellstmöglich trennen?

Bitten Sie zum Beispiel im Rahmen eines Abteilungsmeetings die Anwesenden, sich zu zweit zusammenzusetzen und innerhalb von zehn Minuten so viele „stupid rules“ wie nur möglich zu finden, auf Haftzettel oder Moderatorenkärtchen zu schreiben und anonym an eine umgedrehte Pinnwand zu heften. Sie werden sich wahrscheinlich wundern, wie auf einmal die Funken sprühen und was so alles zusammenkommt.

Ist die Sammlung komplett, wird eine Priorisierung vorgenommen. Danach machen sich bereichsübergreifende Dreier-Teams an die Arbeit, um „stupid rules“ ganz zu streichen oder durch neue, agilere Vorgehensweisen zu ersetzen. Zum Start fängt man am besten dort an, wo sich schnell was bewegen lässt. Dies ist auch deshalb sehr hilfreich, weil erste Erfolgserlebnisse so zügig sichtbar werden und im Unternehmen via Storytelling die Runde machen können.

Neben überflüssigem Papierkram, antiquierten Routinen, lästigen Arbeitsabläufen, unnötigen Verfahren, bremsenden Vorschriften und sonstigen Bürokratiemonstern kann man sich bei dieser Gelegenheit auch von vielen weiteren Monstern trennen:

  • Schreibstil-, Textbaustein- und Floskelmonster
  • Kundenverärgerungsmonster
  • Meeting-, Powerpoint- und eMail-Monster

Die entscheidende Frage dabei ist demnach nicht: „Was brauchen wir noch?“ Sondern sie lautet zunächst: „Was muss weg?“ Und hiernach stellt sich die Frage: „Was muss anders werden, damit wir möglichst schnell zukunftsfit werden?“ Die Mitarbeiter wissen übrigens sehr oft längst, was dazu nötig ist.

Weglassen bringt hohe Kostenersparnis

Einmal hatte ich mit einer Firma zu tun, da meinten die Manager, Bürokratie käme bei ihnen kaum vor. Doch dann stellte sich raus: Für jede (!) Entscheidung, die mit einer Geldausgabe verbunden war, brauchte es die Unterschrift eines Vorgesetzten. Die „blinden Flecken“ sind in manchen Organisationen wirklich riesig. Was das am Ende alles kostet und wie viel Zeit das verschlingt, wird aber nie je beziffert.

Um in die richtige Richtung zu steuern, lassen sich jenseits von Direktiven auch smarte Anstupser setzen. Dieser Ansatz ist durch den Wirtschaftsnobelpreisträger Richard H. Thaler als Nudging bekannt geworden. Dazu gleich ein Beispiel: Es gibt Unternehmen, da kostet das Erstellen und Kontrollieren von Reisekostenabrechnungen genauso viel wie die Reisen selbst. Was man dagegen tun kann?

  • Erstens: Reiserichtlinien zusammenstreichen. Eine Kundin erzählt: „Früher waren das bei uns sieben Seiten und kein Mensch hat das verstanden. Übrig geblieben ist eine Seite.
  • "Zweitens: Ein paar wenige Leitlinien formulieren, wie etwa diese: Jeder tätigt ausschließlich sinnvolle Ausgaben.
  • Drittens: Kontrolle streichen. Stattdessen die Reisekosten jedes Einzelnen transparent ins Intranet stellen. So kann jeder sehen, wer’s über- und untertreibt.


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