Die Quintessenz von Lean: Intelligenter Prozess vs. Intelligenter Mitarbeiter

Die Quintessenz von Lean: Intelligenter Prozess vs. Intelligenter Mitarbeiter

Die Quintessenz beschreibt in der Alchemie des Mittelalters „die fünfmal ausgezogene Kraft eines Stoffes“, ein durch Destillation gewonnenes Universalheilmittel, einen Auszug „von feinster Kraft“ – also das Wichtigste und Wesentliche.

Fünfmal ausgezogen, fünfmal verfeinert – bei Lean kann das ja nur bedeuten: An den fünf Prinzipien von Lean reflektiert, gemessen, geschliffen – destilliert eben.

Und das ist genau das, was wir tun wollen: Fragestellungen, Methoden, Vorgehensweisen und Werkzeuge von Lean so stark extrahieren, dass wir sie für Euch auf die Quintessenz verfeinern können.

Auch wenn wir keine Alchemisten sind, diskutieren wir doch unsere Themen so, dass am Ende „die feinste Kraft“, das Wesentliche übrig bleibt…

#leanmagazin
am 13. 10. 2021 in LeanMagazin von Dr. Julia Boppert


„Wir brauchen gute, standardisierte Prozesse und kluge, motivierte Mitarbeiter“

Soweit richtig und natürlich zu 100% Lean-Denken! Nun stellt man aber in der Praxis immer wieder fest, dass in manchen Bereichen eher der Prozess und in anderen eher der Mitarbeiter die entscheidende Intelligenz beisteuert. Wann aber ist was die richtige Lösung – und warum ist es nie sinnvoll, beides zu haben…

Nur sehr wenige Prozesse enthalten keine Freiheitsgrade. Einfache Einlegearbeiten wären ein Beispiel für einen Prozess praktisch ohne Freiheitsgrad; doch solche Abläufe führt heute kaum noch ein Mensch aus. Dafür gibt es Vorrichtungen und Maschinen. Prozesse, in denen Menschen arbeiten, beinhalten immer fast die Möglichkeit etwas richtig oder falsch zu machen, eine Kiste hierhin oder dorthin zu stellen, eine richtige oder falsche Schraube zu verwenden, ein rotes oder grünes Anbauteil zu montieren. Die Prozesse haben also Freiheitsgrade, innerhalb derer die Bearbeiter Entscheidungen treffen müssen, während sie die Aufgabe erledigen.

Damit Prozesse, in denen Menschen arbeiten, verlässlich laufen, müssen also bei der Durchführung Entscheidungen getroffen werden. Um eine Entscheidung innerhalb eines Freiheitsgrades zu treffen, müssen Daten über die Situation vorliegen, Regeln bekannt sein und befolgt werden, so dass dann die zutreffende der möglichen Varianten ausgeführt werden kann. Diese Funktion innerhalb eines Ablaufs wollen wir als „Intelligenz“ bezeichnen – von lateinisch inter legere "dazwischen wählen".

„Der intelligente Mitarbeiter“

Eine Möglichkeit, Intelligenz in die Abläufe zu bringen, ist der intelligente Mitarbeiter, der als Prozessexperte über (meist über einen längeren Zeitraum erarbeitete) Erfahrung verfügt, nahezu alle Situation, Sonderfälle und Besonderheiten im Kopf hat und genau weiß, wann er wie reagieren muss, damit am Ende ein Kunde zufrieden ist. Wenn ein Unternehmen über den Luxus verfügt, überwiegend solch engagiert mitdenkende Mitarbeiter zu haben, dann kann die Prozessbeschreibung und Arbeitsanweisung weniger spezifisch, weniger restriktiv sein. Es ist dann nicht nötig, alles haarklein festzuschreiben, da die Mitarbeiter in der Lage sind, Entscheidungen selbständig (also auch ohne zeitraubende Rücksprache mit Vorgesetzten) zu treffen und im Sinne des Unternehmens richtig zu agieren.

Klingt gut, oder? Die Schwierigkeit bei dieser Lösung ist, dass dadurch eine hohe Abhängigkeit von den Mitarbeitern besteht. Wenn es also durch Krankheit oder Urlaub eines Mitarbeiters zu Unterbesetzung kommt, kann diese Lücke nicht schnell oder nicht mit der gleichen Qualität durch andere (noch nicht so erfahrene) Kollegen geschlossen werden. Zum anderen entsteht für das Unternehmen ein (kaum greifbares) Risiko, wenn der Mitarbeiter das Unternehmen verlassen oder auch nur seine Aufgabe bzw. Abteilung im Unternehmen wechseln will – ohne die Prozessexperten läuft der Prozess entweder gar nicht richtig oder nur mit deutlich erhöhtem Aufwand oder geringerer Qualität. Deshalb – und auch weil der Fachkräftemangel es immer schwieriger macht, engagiertes UND erfahrenes Personal zu finden – versuchen viele Unternehmen in den ausführenden Bereichen von Produktion und Logistik diese Art der Prozessgestaltung zu vermeiden oder sie nur in ausgewählten Bereichen zu nutzen, in denen der Mitarbeiter mit seinem Know-how, seiner Erfahrung und seinem Weitblick unersetzlich ist.

Derartige operative Abläufe findet sich z.B. im E-Commerce – und zwar in den Einlagerprozessen: Wenn Lagerfächer mit unterschiedlichen Artikeln belegt werden (aufgrund eines breiten Sortiments mit geringen Stückzahlen je Artikel), muss sichergestellt sein, dass es beim späteren Pickprozess möglichst nicht zu Verwechslungen kommen kann. Es ist also von hoher Bedeutung, dass die einlagernde Person darauf achtet, dass z.B. nicht zwei Bücher der gleichen Farbe in einem Fach stehen. Je größer das Sortiment und je höher der Wechsel der Artikel, desto aufwändiger ist es, diese wichtigen Produktinformationen in den IT-Systemen zu hinterlegen und aktuell zu halten. Daher wählt man an dieser Stelle gern die Lösung „intelligenter Mitarbeiter“. Denn ein erfahrener Prozessexperte, der auch die späteren Pickabläufe und typische Fehlerbilder kennt, weiß genau, worauf er bei der Einlagerung achten muss, welche Kombinationen er vermeiden sollte und wie er seinen Kollegen aus der Kommissionierung ihre Aufgabe möglichst leicht und fehlerfrei vorbereiten kann.

„Der intelligente Prozess“

Die zweite Lösung ist der intelligente Prozess: Alle Schritte sind im Detail ausgeplant, alle Entscheidungen sind definiert und klar, alle Mitarbeiter sind eingewiesen und werden durch technische Hilfsmittel bestmöglich unterstützt. Diese Art der Prozessgestaltung ist dann ideal, wenn die Abläufe mit vertretbarem Aufwand so klar gestaltet und strukturiert werden können, dass eindeutige Regeln entstehen, die einfach und transparent umgesetzt werden können. In Konsequenz hat der ausführende Mitarbeiter nahezu keine Freiheitsgrade, Entscheidungen zu treffen – positiv formuliert: er muss nicht über das nötige Erfahrungswissen verfügen, um richtig zu entscheiden.

Daher sollte diese Lösung immer dann eingesetzt werden, wenn es entweder nicht sinnvoll ist, dass die Mitarbeiter Freiheitsgrade in der Ausführung haben (z.B. weil der beste Prozess erprobt und klar beschrieben ist), oder wenn die notwendige Erfahrung der Mitarbeiter nicht vorhanden ist (z.B. wenn es sich um neue oder häufig wechselnde Mitarbeiter handelt).

Ein gutes Beispiel liefert wieder die Logistik im  E-Commerce: In dieser Branche gibt es zu bestimmten Zeiten – z.B. vor Weihnachten – Situationen, in denen die Unternehmen für einen erwarteten signifikanten Anstieg der Aufträge zusätzliches Personal für die Kommissionierung brauchen. Diese Mitarbeiter müssen dann schnell angelernt werden und quasi ad hoc eine vergleichbar hohe Leistung und Qualität bringen wie die erfahrenen Kollegen – bleiben aber nach dem Peak i.d.R. nicht im Unternehmen oder zumindest nicht im Kommissionierbereich.  Daher ist es in diesem Fall sinnvoll – vielleicht sogar essenziell – die Intelligenz, die Entscheidungskompetenz, nicht in den Köpfen der Mitarbeiter, sondern in den Prozessen selbst zu verankern. Nur so kann die geforderte Schnelligkeit, der gleichbleibend hohe Qualitätsanspruch und die signifikante Skalierung realisiert werden.

Und was ist mit der Kombination aus beidem – dem „intelligenten Mitarbeiter“ im „intelligenten Prozess“?

Während mit den richtigen Rahmenbedingungen in der Praxis sowohl „der intelligente Mitarbeiter“ als auch „der intelligente Prozess“ gut funktionieren, führt die Kombination aus beiden Varianten meist zu Problemen – und das ist auch ganz logisch, denn…

Menschen, die als Prozessexperten mit hoher Erfahrung in der Lage und willens sind, Entscheidungen zu treffen und vorhandene Freiheitsgrade für ein gutes Prozessergebnis zu nutzen, genießen natürlich auch diese Möglichkeit, sich einzubringen und für ihre Expertise entsprechende Wertschätzung zu bekommen. Diese Kollegen denken bei der Arbeit aktiv mit. Sie machen sich Gedanken, über die nächsten Schritte und das Zusammenspiel mit den angrenzenden Prozessschritten.

Wenn nun ein solcher Mitarbeiter über einen intelligenten Prozess, also einen stark definierten und fixierten Ablauf, in ein strenges Raster gezwungen wird, muss er seine (geistige) Arbeitsweise grundlegend ändern und es fällt ihm oftmals schwer, ohne seine gewünschten Freiheitsgrade motiviert und zufrieden zu bleiben.

Noch schwieriger ist die Situation jedoch, wenn ein Prozess in den meisten Schritten „intelligent“, d.h. mit minimalen Freiheitsgraden und maximaler Prozessführung aufgesetzt ist und dann (oft) im letzten Schritt hohe Freiheitsgrade aufweist, also auf den „intelligenten Mitarbeiter“ setzt.

Beispiele dafür gibt es in der Praxis zuhauf. So wird bei Kommissionier- und Sequenzierabläufen im Produktionsumfeld der Kernprozess, also der Rundlauf, das Picken, Ablegen, Scannen und Abschließen der Tour meist sehr genau und explizit beschrieben, wohingegen das Verbringen des Kommissionier- oder Sequenzbehälters an einzelne Arbeitsplätze oder unterschiedliche Übergabestationen oft offen bleibt. Fragt man dann, warum nicht auch dieser Schritt ähnlich fixiert ist, kommt oft die Antwort „Das weiß der Mitarbeiter dann schon…“  Ja, der „intelligente Mitarbeiter“ – der während seiner Arbeitsabläufe mitdenken und entscheiden darf –  weiß das sicher – der langweilt sich aber in den vorherigen Schritten und muss dann beim letzten Schritt schnell in den Mitdenk-Modus umschalten, nur um danach im nächsten Auftrag wieder seinen Fokus auf die schnelle Ausführung vorgedachter und fixierter Prozesse ohne Freiheitsgrade zu legen. Das ist nicht nur hochgradig fehleranfällig, sondern auch für die Mitarbeiter geistig extrem ermüdend – das Belastungserleben bei dieser Art des Arbeitens ist besonders hoch.

Insofern muss man – auch und gerade aus Lean-Aspekten – je nach Rahmenbedingungen eine klare planerische Entscheidung für eine Gestaltung von Abläufen nach dem Prinzip „intelligenter Prozess“ oder „intelligenter Mitarbeiter“ treffen – und diese dann konsequent vom Anfang bis zum Ende umsetzen.

Nur dann gelingt auch nachhaltig der Anspruch: „Wir haben gute, standardisierte Prozesse und kluge, motivierte Mitarbeiter.“



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