Teil 3: Aus der Hexenküche eines Interimmanagers

Teil 3: Aus der Hexenküche eines Interimmanagers

Im ersten Teil dieser Textreihe sprach ich über die Unbeweglichkeit eines Unternehmens als Faktor, der Krisen entstehen lassen oder verstärken kann. Diese Unbeweglichkeit kann sich dabei in Form einer Innovationskrise zum Ausdruck bringen, aber auch als „soziale Unbeweglichkeit“ auftreten. Zur Beschreibung beider, die Krise herbeiführenden Unbeweglichkeiten verwende ich gerne die Metapher der Plastizität, um das zu verdeutlichen, was ich darunter verstehe bzw. wie meiner Erfahrung nach der „Unbeweglichkeitsknoten“ durchschlagen bzw. aufgelöst werden kann.

#leanmagazin
Podcast, am 21. 12. 2020 in LeanMagazin von Dr. Bodo Antonic


Neuroplastizität ist Voraussetzung für neue Denkergebnisse. Während ich bei der Innovationskrise nicht selten deswegen keine neuen Ideen und damit keine neuen Produkte bzw. Dienstleistungen zu entwickeln imstande bin, weil ich unnotwendige bzw. nicht zielführende Gedankenballaste – also geistige Regeln – mit mir führe, sind es bei der „sozialen Unbeweglichkeit“ überflüssige soziale Regeln, die mich in meiner Fortentwicklung behindern, also sozialaplastisch sind.

Diese kommen nicht selten klein, geradezu harmlos daher, steigern sich aber nach und nach zu einem Dauerfeuer aus Handlungsverboten. Handlungsverbote, die nach und nach dem Menschen das Denken abgewöhnen. Aus einem „Das tut man aber nicht!“ wird ein „Sowas sagt man nicht!“, um sich letztendlich in einem „Sowas denkt man nicht einmal!“ aufzuschaukeln. Aus Handlungsgeboten werden Denkverbote. Mangelnde „Sozialplastizität“ zieht also mangelnde „Neuroplastizität“ nach sich.

Ich verdeutliche dies immer wieder gerne an einem Praxisbeispiel, welches ich vor vielen Jahren in einem medizintechnischen Unternehmen erfahren durfte. Die deutsche Tochter eines Weltmarktführers stagnierte, sowohl Innovation als auch Topline entwickelten sich mehr zur Seite als nach oben, die Konkurrenz holte auf. Man drohte zur Commodity zu werden – und dies bei Preisen, die deutlich über dem Marktdurchschnitt lagen. Die Kunden murrten, einige drohten mit Absprung. Zudem war das Unternehmen ca. 2 Jahre zuvor verkauft worden und die Neugesellschafter wollten nun eine Steigerung des EBITs sehen. Da sich dies nicht mehr durch eine Steigerung von Innovation und Umsatz erreichen ließ, wurde dem Unternehmen ein gefährlicher Sparkurs verordnet, der drohte die herausragende Qualität der Produkte ins Durchschnittliche zu drehen.

Es stellte sich die Frage nach dem Handlungs- und Veränderungsansatzes. Die Lösung kam auf kleinen, leisen Füßen daher. Eine Mitarbeiterin klagte mir ihr Leid dahingehend, daß sie viel zu viele unnotwendige Berichte und Anträge zu schreiben hätte. Ich, als Neuling im Unternehmen von der Fee der Neugier geküsst, fragte mit offenen Ohren sie nach der Natur dieser Berichte. Das Ergebnis war typisch und zugleich besorgniserregend. Für jeden Knopf musste im Unternehmen ein Antrag geschrieben werden. War dieser nicht vollendet und formwahrend formuliert, gab es eine auf die Mütze und zudem wurde der Antrag wieder in den Stapel ganz nach unten geschoben. Kein Wunder, daß die Mitarbeiter wenig Lust auf Anträge hatten. Dies ging so weit, daß Mitarbeiter sich lieber ihre Büromaterialien privat kauften, als für 5 Euro einen Antrag zu schreiben.

Nun mag man meinen, dass dies alles doch ganz wunderbar sei, da das Unternehmen sich dadurch einen Teil der Bürokosten sparte. Weit gefehlt. Diese kleine, unbedeutende Regel der Berichtserstellung – Mach ja bloß keinen Fehler! – führte zum einen dazu, daß die besten Mitarbeiter das Unternehmen verließen. „Innovationsmitarbeiter“ und Verkäufer können sehr direkt mit den Füßen abstimmen. Zum anderen und damit erschwerend führte diese soziale Regel – Zur Wiederholung: Mach ja bloß keinen Fehler! – daß die Menschen genau diese Regeln befolgten. Sie wurden fehlerfrei. Durchs Nichtstun. Wer sich nicht bewegt, macht keine Fehler. Beamtenmikado, kennen Sie doch, oder?

Wer sich nicht bewegt, macht keine Fehler und wer keine Fehler macht, ist gut. Dies hatten die Mitarbeiter gelernt. Und dies ist nichts anderes als die Unbeweglichkeit, die ich meine. Und aus dieser sozialen Unbeweglichkeit wird irgendwann eine geistige Unbeweglichkeit.

Nun werden Sie fragen, wie ich zusammen mit den Mitarbeitern aus diesem Status der Unbeweglichkeit herauskam. Die Lösung ist so einfach und offensichtlich wie wirkungsvoll.

  • Schmeiß einfach jede Regel über Bord, die nicht dem Unternehmen UND den Kunden dient.
  • Schmeiß jeden Prozess über Bord, der nicht dem Unternehmen UND den Kunden dient.
  • Schmeiß jedes Meeting, jeden Bericht und jegliches Businesstheater über Bord, wenn diese nicht dem Unternehmen UND dem Kunden dienen.

Kurzum, schmeiß alles über Bord, was Du nicht wirklich brauchst. Trenne Dich von jedem „Sowas macht man nicht““, „Sowas sagt man nicht!“ und vor allem „Sowas darf man nicht einmal denken!“. Reduziere und konzentriere Dich auf alles, was Du und dein Kunde wirklich brauchst. Damit wird aus fett und unbeweglich, schlank und rank. Oder – wenn es denn ein schicker Anglizismus sein soll – nennen wir es einfach lean. Lean ist nicht nur zielführend, es klingt auch noch schick und ist in der Lage, die notwendigen Veränderungsbudgets freizueisen.

Zudem bringt Lean oder meinetwegen auch schlank und rank etwas, von dem Vorstände und Anteilsinhaber nicht genug bekommen können. Innovation und EBIT. Diese stellen die verständlichen Bedürfnisse von Vorständen und Anteilsinhabern dar, sind aber auch für das Unternehmen ein wichtiges Gut. Denn sie sind der Garant für den Fortbestand des Unternehmens. Wer dichter am Kunden dran ist, in dem er sich sein unnotwendiges Korsett aus Regeln abgestreift hat, wird beweglicher, hört seinen Kunden besser zu und nimmt dessen Bedürfnisse wahr, ist zudem beweglicher und schneller, wenn es um die Realisierung der Kundenwünsche geht. Dies bringt Umsatz, EBIT und sichert die Relevanz des Unternehmens – und damit seine Zukunft.

Es bringt aber noch viel mehr. Freude an der Arbeit in und am Unternehmen. Mitarbeiter, die sehen, dass sie nicht nur irgendwelche doofen Regeln einhalten müssen – „Mach ja bloß keine Fehler“ – werden ein ganz unerhörtes Verhalten an den Tag legen. Wenn sie lernen, daß sie Fehler machen dürfen, wenn sie lernen, daß sie fragen, nachfragen und hinterfragen dürfen, werden sie zeitnah anfangen, kreativ und damit innovativ zu werden. Und möglicherweise ist es genau das, was wir von unseren Mitarbeitern wollen.

In dem vorbenannten Unternehmen bekamen wir kurze Zeit darauf quasi eine „kambrische Explosion der Innovation“. Der „Befreiungsmeteorit“ schlug ein und vernichtete das Überflüssige und schuf Raum für eine schlanke, von überflüssigen Regeln, unnotwendigen Riten und Denkverboten befreite Unternehmensführung. Das Ergebnis war für die Arbeitsmoral und den EBIT zuträglich. Die Dame, die mir damals ihr Leid klagte, ist heute Vertriebsdirektorin und breit akzeptiert. Und das Unternehmen steigerte seinen Umsatz binnen Jahresfrist um 20% - bei gleichbleibenden Fixkosten.



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