Lasst uns unsere Wirtschaft wieder menschlich gestalten!
Vermehrt nehme ich in der letzten Zeit Diskussionen über ein neues notwendiges Modell der Zusammenarbeit in Unternehmen wahr. Beispielsweise findet man unter den Begriffen Unternehmensdemokratie oder Augenhöhe eine Menge an Information in diesem Kontext im Netz.
Mit diesem Beitrag möchte ich meine Sicht darauf spiegeln und dabei auf die folgenden Fragen eingehen.
- Von welchen Paradigmen ist unser derzeitiges Modell der Zusammenarbeit in vielen Unternehmen geprägt und warum?
- Wie sollte dieses Modell zukünftig ausschauen?
- Was hält uns davon ab, den Weg in Richtung eines neuen Modells einzuschlagen?
Kommen wir zur ersten Fragestellung.
Wie denken und arbeiten wir in der Regel in Unternehmen zusammen?
Die dargestellte Abbildung möchte ich jetzt kurz im Kontext eines sehr kurzen Abrisses der Wirtschaft erklären.
Vor der Industrialisierung war das wirtschaftliche Agieren auf lokale Märkte beschränkt, die gesättigt waren. Das handwerkliche Gewerbe war vorherrschend. Um auf diesen Märkten überlebensfähig zu sein, mussten die Unternehmen eine hohe Eigenkomplexität aufweisen, da die Umwelt diese ebenfalls inne hatte. Zu diesen Zeiten gab es keine Standardisierungen. Redundanzen waren gewollt, da lebensnotwendig. Hierarchien bildeten sich nicht per kontextlosem Erlass, sondern auf natürliche Art und Weise entsprechend des Könnens und der Talente der beteiligten Menschen. An Best Practice und vorgefertigte Methoden war nicht zu denken.
Mit dem Einzug der Industrialisierung, sprich mit der Urbarmachung von Technik, wurde auch das wirtschaftliche Agieren ausgedehnt. Es war nun nicht mehr nur lokal beschränkt. Es wurde die Basis für die Globalisierung geschaffen. Dadurch wurden die Märkte, auf denen die Unternehmen, die dann auch immer größer wurden, ausgedehnt. Die Märkte waren nicht gesättigt und Unternehmen konnten durch Schaffung von effizienten und effektiven Prozessen optimal agieren. Standardisierung war das Schlagwort. Geschäftsprozesse, an die sich alle zu halten hatten, wurden geboren. Wenige dachten, viele agierten. Die Unternehmen haben also ihre Eigenkomplexität minimieren können, gar müssen, um wettbewerbsfähig zu sein. Durch die Ausweitung der Märkte wurden nämlich auch deren Komplexitäten reduziert. Die Lehre vom Management von Unternehmen, wie es in vielen BWL-Büchern zu lesen ist, wurde in dieser Zeit geboren. Wir sprechen in dieser Epoche von einem Verkäufermarkt, da Kunden ausschließlich Konsumenten waren. Effizienz stand im Vordergrund, da ja klar war, was getan werden musste. Es musste nur schnell und kostengünstig getan werden.
Mit dem fortschreitenden Agieren der Unternehmen auf den Märkten wurden diese immer gesättigter. Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen um Marktanteile stieg an. Die Technik wurde genutzt, um die Vernetzung auf den Märkten zu erhöhen. Technologie trieb und treibt nun die Komplexität der Märkte wieder nach oben. Die vielen Märkte schlossen sich wieder zu einem großen Markt zusammen. Unternehmen sollten nun wieder reagieren und ihre Komplexität ebenfalls erhöhen, wie es vor der Industrialisierung der Fall war, um auf diesem Markt überlebensfähig zu sein.
Tun sie das aber? Nein, zu beobachten ist, das sie genau das Gegenteil tun. Es wird noch mehr über Standardisierung gesprochen, es werden lokale Effizienzen geschaffen, künstlich geschaffene Hierarchien verhindern das Denken etc.
Unternehmenslenker stecken in einem Dilemma, denn die Denk- und Handelsweisen der Industrialisierung funktionieren nicht mehr. Nun sprechen wir von einem Käufermarkt, da Kunden nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten sind. Sie bewerten beispielsweise Unternehmen über Rezensionen, die sich in rasend schneller Geschwindigkeit über den gesamten Erdball verteilen. Unternehmen müssen darauf reagieren.
Wie sollten wir denn nun miteinander denken und agieren?
Möchte man eine Rangfolge zwischen Effektivität und Effizienz bilden, dann kommt nun, im Gegensatz zu Zeiten der Industrialisierung, Effektivität vor Effizienz. Denn es ist erst einmal essentiell die „richtigen“ Dinge zu tun, also effektiv zu sein. Erst dann sollte man diese „richtigen“ Dinge auch „richtig“ umsetzen, also effizient sein. Allerdings lässt sich in komplexen Umfeldern ein „richtig“ oder „falsch“ den Handlungen nicht vor, sondern erst nach Ausführung dieser und abschließender Reflektion der Ergebnisse zuschreiben.
Deshalb sollte man mit dem Anspruch an Effektivität und Effizienz in komplexen Umfeldern demütig umgehen. Viel wichtiger ist es einen geschlossenen Regelkreis aufzubauen, der es erlaubt schnell zu handeln, Ergebnisse des Handelns schnell wahrzunehmen, schnell Erkenntnisse zu generieren und dann auf Basis der neuen Erkenntnisse ggf. angepasste Handlungen vorzunehmen. Entscheidungen benötigen Marktnähe.
Und damit nähere ich mich der Basis für ein neues Modell der Zusammenarbeit an, der Schaffung von unternehmensweiten Value Stream Teams. Worum geht es dabei?
Weg von einer funktionalen Organisation, die die jeweiligen Mehrwertströme in Unternehmen durchbricht, hin zu einer prozessualen Aufstellung, bei der alle Trennungen, die wir in Form von Prozessen, Rollen, Methoden, Standards etc. vollführen, marktrelevant sind.
Ich möchte die Gedanken am Beispiel eines Handelsunternehmens reflektieren. Da der Kunde beispielsweise ein Unternehmen nicht in Einkauf und Vertrieb einteilt, sollten diese Trennungen auch nicht in internen Prozessen und Bereichen vollzogen werden. Was könnten also marktrelevante Trennungen sein?
Man könnte die Wünsche des Kunden in 3 große Bereiche, vereinfacht natürlich, einteilen. Der Kunde möchte Produkte finden, die er sucht. Er möchte sich inspirieren lassen, sprich er möchte auch Produkte finden, die er gar nicht sucht und an die er vielleicht noch gar nicht denkt. Zum Schluss möchte er natürlich auch diese Produkte, hat er sie dann bestellt, schnell geliefert bekommen.
Diese 3 Wunschbereiche kann man auf die Kernprozesse eines Handelsunternehmens Vertrieb, Einkauf und Logistik projizieren. Wenn man es nun ernst meint mit dem unbedingten Ausrichten auf den Kunden, also Bedürfnisse der Kunden befeuern und wahrnehmen, so wie diese dann auch befrieden, sollte man hier als Erstes nach Differenzierungsmerkmalen bei den Wunschbereichen suchen. Beispielsweise haben die Kunden unterschiedliche Erwartungen in der Liefergeschwindigkeit von Möbel, Elektro und Fashion. Diese unterschiedlichen Artikelgruppen werden auch unterschiedlich gelagert oder auch unterschiedlich vermarktet. Ist es da nicht sinnvoll, unternehmensintern bzgl. dieser Artikelgruppen auch Unterschiede in den Prozessen, Rollen und Methoden zu definieren, als diese gleichgetaktet über alle Artikelgruppen hinweg operationalisiert zu haben und damit auf die Spezifika nicht oder nur unzureichend eingehen zu können?
Zieht man diesen Gedankengang weiter ist es offensichtlich, dass es beispielsweise keinen zentralen Vertriebs- oder Einkaufsbereich mehr geben muss. Die Experten aus diesen Bereichen sind dezentral auf die einzelnen Value Stream Teams „Elektro“, „Möbel“ und „Fashion“ aufgeteilt. Weiter möchte ich diesen Gedanken nicht ausführen, da er diesen Blogpost sprengen würde. Für Details verweise ich gerne hierher.
Warum tun wir uns mit der Umsetzung so schwer?
Mit einer Umsetzung von Changevorhaben betreten wir die emotionale Ebene, kommend von einer rationalen. Am Anfang werden in der Regel wahnsinnig gute Inhalte zu den Fragen “Warum Change?”, “Was sollten wir ändern?” oder “Was sollten wir beibehalten?” diskutiert und dokumentiert. Im Kontext des neuen Modells der Zusammenarbeit habe ich diese rationale Ebene mit den ersten beiden Fragen beleuchtet. Will man diese Antworten aber nun operationalisieren, beginnt es schwierig zu werden. Wir betreten die Ebene der Emotionalität und Menschlichkeit. Es geht nämlich im Rahmen von Changes nicht um das Einführen von Methoden, sondern um das Ändern von Einstellungen und Haltungen zum Miteinander Denken und Arbeiten. Und dafür gibt es keinen Knopf, den man drücken kann. Wir sind ja keine Maschinen. Ein Glück!!!
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang die X-Y Theorie von Douglas McGregor herangezogen und die Hypothese postuliert, dass wir jetzt Alle Y-Menschen werden sollten. Ich denke nicht in „Entweder-Oder“, sondern in „Sowohl-Als-Auch“. Genau dieser Fakt ist aber schwer in Rezeptformat zu bringen und damit in eine Methode zu pressen. Lebendigkeit heißt eben vor allem Widersprüche zuzulassen, also beispielsweise Eigenschaften der X-Kategorie als auch der Y-Kategorie zu leben und das bestenfalls auch noch gleichzeitig, obwohl diese scheinbar diametral gegenüberstehen. Lebendigkeit ist nicht logisch.
Solange wir weiterhin bei jeder möglichen Fragestellung nach Methoden, Best Practice, Rollen, Standards etc. fragen, blenden wir unsere Lebendigkeit aus und damit auch Potentiale besser zu werden. Nicht Maschinen werden irgendwann so intelligent wie wir, sondern wir stumpfen in unserem Bewusstsein ab. Standards und Prozesse erlangen Autorität über uns. Prof. Dr. Arno Gruen hat diesen Fakt sehr schön in einem Vortrag verpackt.
Wollen wir also ein neues Modell der Zusammenarbeit in Unternehmen einführen und damit das alte ablegen, welches seinen Ursprung in der Industrialisierung hat, müssen wir Menschen erst wieder zu uns selbst zurückfinden. Ich beispielsweise habe in meinem Denkrahmen das Konstrukt der Rollen, wie beispielsweise “Führungskraft” oder “Projektmanager”, abgelegt. Ich sehe ausschließlich den Menschen, wissend, dass wir Menschen zu bestimmten Kontexten verschiedene “Rollen” bedienen müssen und diese auch noch gleichzeitig.
Ich beziehe mich also auf den für mich wichtigsten agilen Leitsatz “Menschlichkeit vor Prozess!”. Erst entmenschlichen wir unsere Wirtschaft durch Konstrukte wie „Rollen“, „Methoden“, „Prozesse“ etc. Und dann stellen wir die Frage, wie wir eigentlich im Zeitalter der Digitalisierung zusammen arbeiten sollten, und das auf Basis der gleichen entmenschlichenden technokratischen Konstrukte.
Diesen Denkrahmen sollten wir schnell verlassen. Deshalb auch der Titel dieses Blogposts und damit die kybernetische Rückkopplung zum Anfang.
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