Komplexität - Folge 10
WMIA Inc. hat zwar nicht die Hand am Puls der Zeit, natürlich aber den Finger, den kleinen Finger mit dem ja bekanntlich alles, jedenfalls auf Vorstandsebene der Unternehmen erreichen kann. Das Thema „Komplexität“ findet selbstverständlich Beachtung und Würdigung. Dr. h.c. Any Nemo lud daher zum Interview.
Das Gespräch findet im gepflegten satten Grün des unternehmenseigenen Parks von WMIA Inc., das jedem Golfplatz auf Malle zur Ehre gereicht hätte, statt.
Nemo: „Wir haben uns mit dem Thema „Komplexität“ gründlich beschäftigt. Insbesondere unser Unternehmensentwicklungsvorstand, Herr Hon-Prof. Dr. Straightline und unser HR-Chef Mr. Leftover haben dazu wertvolle Beiträge geleistet.“
Auf dem Platz hat man Drähte und Gitter verlegt, kreuz und quer gespannt, die auf vielfältige Weise zufällig miteinander verbunden sind oder auch nicht. Auch ein kaputtes Mikadospiel (wer das nicht kennt, fragt eben mal seine Oma) lag herum.
Das alles ist mit Hilfe des Hausmeisters zusammengekarrt.
Nemo: „Hier findet die Auswahl der Führungskräfte für das Zeitalter der Komplexität statt.“
In der Mitte der Installation liegt ein roter Ball, den es zu bewegen gilt.
Nemo: „Wer ihn bewegt, das heißt, den richtigen Draht zieht, um den Ball zu bewegen, hat gewonnen und wird Komplexitätsmanager seiner Abteilung. Wir haben inzwischen 128 Komplexitätsmanager mit steigender Tendenz.“
Zugelassen zur Qualifikation sei jeder Manager, bevorzugt solche ohne bisher erkennbaren Arbeitsbereich. Die Manager müssen allerdings in den Test aus eigener Tasche investieren.
Am Spielfeldrand stehen Automaten, mit denen man vor dem Drahtziehen Wetten darauf abschließen kann, ob man es schafft, mit einem Zug an einem losen Drahtende, die in reichlicher Zahl am Rand des Spielfelds liegen und mit unterschiedlichen Farben bemalt sind… Manche sind sogar mit einer kleinen Leckerei versehen, also beispielsweise einem 19 Euro Schein, die die Akteure zum Handeln einladen, den Ball zu bewegen.
Interviewer: “Mmmmh“
Nemo: „Das ist der Vorteil dieser neuen Mode, Komplexität entzieht sich ja klassischer Ausbildung und die HR-Abteilung meint, dass die Teilnehmer schon einen gewissen Einsatz zeigen sollen, den sie dann in den Automaten am Spielfeldrand stecken.
Kupfermünzen sind nicht zugelassen, sie gelten als Selbstunterschätzung und mangelnde Charakterstärke, sie sind ein K.O.-Kriterium.“
Der Interviewer schluckt. „Dann ist das hier alles ein Spiel?“
Dr. Nemo hat die Frage überhört.
Wir nutzen die Komplexität auch für unser Investmentbanking. Früher haben wir über die Investments gewürfelt – was natürlich keiner wissen durfte – heute erklären wir alles, auch die Fehlschläge mit der Komplexität des Wirtschaftslebens. Tolle Erfindung. Unsere Kunden gewinnen natürlich immer, hauptsächlich an Erfahrung.
Aber auch andere Begriffe aus dem Dunstkreis der Komplexität sind an WMIA Inc. nicht vorbeigezogen.
WMIA Inc. hat für spezielle Unternehmensteile, so erzählt Dr. Nemo, also die Produktion von Wasser und Bademoden einen Agilitätsmanager eingestellt. Auch in dieser Beziehung ist man ganz vorne, wenn es um moderne Denkansätze geht.
Der Agilitätsmanager ist ein ehemaliger Inhaber eines Fitnessstudios. Er ist ein Meister darin, den Takt vorzugeben, von dem die Kunden noch nicht einmal ahnen und neue Fitnessgeräte hinzustellen, die der Zeit voraus sind.
Er war in seiner vorigen Tätigkeit daran gescheitert, dass er der Zeit zu weit voraus war und den Begriff agil mit geil verwechselt hatte, was natürlich auch sonst zu nicht unerheblichen Irritationen geführt hatte.
Elvira errötete bei der Erzählung Dr. Nemos dezent gekonnt wie es nur Damen in einem solchen Zusammenhang vollbringen.
Nemo: „Neuerdings müssen wir uns auch mit destruktiven… äh… hmmm… disruptiven Entwicklungen auf dem Markt beschäftigen. Disruptiv ist etwas, das wir schon lange kennen. Ist nur neu betitelt. Wir bauen diese neuen Gedanken einfach in unser System ein.
Der Umgang mit diesen Störenfrieden hat eine schon vor 80 Jahren bewährte Dramaturgie, angelehnt an den Film „Once upon a time in the West“. Wir haben uns mit dem Film beschäftigt, der übrigens die Historie unseres Unternehmens beschreibt“
Um es kurz zu fassen: WMIA Inc. hat spezielle Mitarbeiter dafür eingestellt, dass das „Unkraut“ wie Dr. Nemo es nennt, nicht in den Himmel von WMIA Inc. wächst.
Die Aufgabe dieser Handvoll Mitarbeiter ist es, die Disruptiven zu identifizieren und ihnen einen höflichen aber bestimmten Besuch abzustatten.
Das Auswahlkriterium für diese Herren liegt darin, dass sie so aussehen wie seinerzeit im Film der verwitterte Charles Bronson, der ja „ein Gesicht hat, mit dem man eine Lokomotive stoppen könnte“.
Interviewer: „Sind das nicht Wildwest Methoden?“
Nemo: “Business is no kissing game“.
Elvira hat während des Interviews die Automaten am Spielfeld geleert und zählt die Einnahmen. Frauen sind eben doch praktisch veranlagt.
Interviewer: „Wir wollten doch über Komplexität sprechen?“
Nemo: „Haben wir doch. Wie Sie sehen, haben wir alles im Griff!“
Der Interviewer zog noch an einem der Drähte, um den Ball zu bewegen.
Wie zu erwarten, rührte sich nichts.
Dr. Nemo schmunzelte.
Nemo: „Wir sollten mal über den Umgang mit Fehlern sprechen. Da sind wir auch ganz weit vorne. Also bis nächsten Dienstag!“
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