
Deutschland, was ist los mit Dir? 5 Fragen an Waltraud Gläser
Deutschland steckt im Reaktions- und Verschleppungsmodus, sagt Waltraud Gläser – gefangen in Bürokratie, Klientelpolitik und fehlender Könnerschaft. Doch Hoffnung gibt ihr der Beginn eines neuen Kondratieff-Zyklus mit KI als Treiber und die Energie vieler Menschen, die Verantwortung übernehmen. Ihr Appell: Weg von der (Nicht)Zuständigkeitskultur hin zu echter Verantwortung – in Politik, Wirtschaft und Unternehmen.
Wenn Du an Deutschland heute denkst – was macht Dir am meisten Sorgen?
Am meisten sorgen mich zwei Dinge. Das erste bezeichne ich als „Kompetenzproblem“, im Sinne von fehlender Könnerschaft. Deutschland ist (wie die Welt insgesamt) einer zunehmenden Komplexität ausgesetzt (die über Globalisierung hinausgeht) und versucht sich an „alten“ Lösungen, die bestenfalls für komplizierte Probleme taugen. Es besorgt mich, dass wir sehenden Auges weitere Probleme kreieren und zunehmende Überforderung in Kauf nehmen aus mindestens 2 Gründen:
- weil Deutschland in einem Reaktions- und Verschleppungsmodus ist und den Anschluss verpasst. Anstelle proaktiv Themen und deren Tragweite zu er- und anzuerkennen (Bsp. Demografie, Zuwanderung, Klimawandel), anzupacken und zu bearbeiten, „irren wir uns voran“ und verzetteln uns. Plus, wir lernen entweder gar nicht oder nur sehr schwer aus gemachten Erfahrungen.
- weil zunehmend „Klientelpolitik“ und „Segmentierung“ betrieben wird, das „big picture“ als Orientierung fehlt und somit der systemische Zusammenhang zwischen den einzelnen Problemen unzureichend Beachtung findet.
Die zweite Sache, die mich besorgt, ist das deutsche Bekenntnis zur Demokratie und dessen Unverrückbarkeit. In Umfragen lese ich, „dass das Vertrauen in demokratische Institutionen brüchiger wird“ (Quelle: Studie "Die Ängste der Deutschen 2025" des Infocenters der R+V-Versicherung, 09/25). Dabei wird als auffällig beschrieben, „dass die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft am stärksten zurückgegangen ist“. Das klingt auf den ersten Blick positiv. Es legt allerdings auch das nahe: "Eine konfliktgeladene Öffentlichkeit ist für viele inzwischen zum Alltag geworden. Spaltung wird als Dauerzustand erlebt. Eine solche Normalisierung ist gefährlich". Das teile ich absolut.
Und was macht Dir Hoffnung?
Bezogen auf wirtschaftliche Aspekte lässt sich von Wellen ausgehen, die es schon immer gab. Altes wird durch Neues abgelöst und eröffnet neue Chancen und Perspektiven. Das gilt es erstmal anzuerkennen, auch wenn es unterschiedliche Ausschläge gibt, kommen nach „schlechten“ auch wieder zumindest andere Zeiten. Mit meinen Kunden diskutiere ich immer mal wieder die sog. Kondratieff-Zirkel, die auf tiefgreifenden technologischen Innovationen beruhen, die nach ihrer Einführung eine Phase des Wachstums, der Reife und letztlich der Abschwächung durchlaufen. Jeder Zyklus bringt dabei nicht nur neue Technologien hervor, sondern verändert auch Gesellschaft, Arbeitswelt und Kapitalströme nachhaltig. Gegenwärtig mehren sich die Hinweise, dass wir uns am Anfang eines neuen, sechsten Kondratieff-Zyklus befinden. Der bisherige Digitalisierungsschub hat seine Reife erreicht, die Produktivitätsgewinne durch klassische IT stagnieren, Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die gesamte Wertschöpfungskette und damit auch das wirtschaftliche Denken grundlegend zu transformieren. Bei aller Besorgnis (die ich ernst nehme) schaue ich auf das Gute, das es generieren wird. Diese Entwicklung lässt Produktivitätsfortschritte erwarten und wird zur Grundlage neuer Geschäftsmodelle.
Das bringt mich zu einer weiteren Hoffnung. Nämlich die vielen jungen sowie älteren Menschen, die sichtbar Verantwortung übernehmen und ihre Ideen einbringen und umsetzen – sei es hinsichtlich des Demokratieverständnisses, beim Klimaschutz, in der Start-up-Szene oder im Ehrenamt. Da spürt man noch diese Energie, etwas bewegen zu wollen und den eigenen Einfluss zu nutzen bzw. ihn sich zu beschaffen. Das bedeutet ja auch, dass man sich nicht einfach mit etwas abfindet und fatalistisch wird, sondern schaut, wie es gehen kann. Und das auch auf der Grundlage von Stärken, die wir in Deutschland und hinsichtlich unserer Mentalität an vielen Stellen haben.
Wo siehst Du die größten Chancen – wirtschaftlich, gesellschaftlich oder technologisch – die wir in Deutschland gerade verpassen?
Aktuell verpassen wir es, ein gemeinsames Bild einer wünschenswerten Zukunft zu entwerfen. Aufgrund der Trends zur Individualisierung und der Fragmentierung unserer Gesellschaft vergeuden wir sehr viel Energie. Das kostet zudem Zeit und Ressourcen und macht es erstmal nicht besser. Es wird verpasst, sog. “Quick Wins“ aufzuzeigen. Was hat gut geklappt und wodurch wurde es möglich? Stattdessen wird lamentiert und tendenziell auf die negativen Deltas verwiesen, anstatt auch das zu benennen, was gut läuft und worauf wir stolz sein können. Wir könnten auch noch viel mutiger sein und bspw. in neue Technologien und in Digitalisierung investieren. Stattdessen verlieren wir uns in Bürokratie. Die Ankündigungen, dort etwas besser zu machen, kommen kaum über eine Absichtserklärung hinaus. Das schafft immer wieder neue Frustration und Demotivation. Wir sind auch schlicht zu langsam. Gesellschaftlich sehe ich, dass wir unsere Vielfalt zu wenig als Stärke begreifen. Darin steckt so viel Potenzial.
Welche Veränderung würdest Du Dir am dringendsten wünschen – politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich?
Ich wünsche mir mehr Klarheit, Ehrlichkeit und Orientierung in und von der Politik. Weniger Taktieren, mehr Miteinander im Sinne des politischen Auftrags. Wirtschaftlich würde es uns guttun zu lernen, pragmatisch und schneller zu entscheiden – nicht alles zerreden, sondern „hands on“ und anpacken. Gesellschaftlich ist es relevant, Andersartigkeit und Vielfalt anzuerkennen. Ich wünsche mir mehr die Offenheit, voneinander zu lernen und die wichtigen Dinge zusammen anzugehen.
Was kann jeder Einzelne – und speziell Menschen im Unternehmensumfeld – konkret beitragen, damit sich etwas bewegt?
Ich nenne es inzwischen den Wandel von einer „(Nicht)Zuständigkeitskultur zu einer Verantwortungskultur“, wovon wir mehr brauchen. Statt in eine „Opferrolle“ zu steigen ist die Alternative die des Mitgestaltens und Verbindens, anstelle weiterer Spaltung und „Lagerbildung“. Wir dürfen mehr erkennen, was uns insgesamt als Gesellschaft am wichtigsten ist und worauf wir Einfluss haben. Und das auch mit Blick auf nachfolgende Generationen.
Im Unternehmensumfeld heißt das für mich: Ein Zielbild haben, Orientierung geben, Mitarbeitende ernst nehmen, in den Diskurs gehen, offen für Neues sein und Chancen geben, auch mal Dinge auszuprobieren. Das wäre gelebte Agilität und nicht nur ein totes Buzzword. Veränderungen entstehen durch Menschen, die etwas verändern wollen. Somit ist das Wollen, neben dem Können und Dürfen, ein erster relevanter Schritt in Richtung gemeinsame Zukunft.
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