Deutschland, was ist los mit Dir? 5 Fragen an Niels Pfläging

Deutschland, was ist los mit Dir? 5 Fragen an Niels Pfläging

„Akzeptanzfixiertheit“ – so beschreibt Niels Pfläging das größte Problem Deutschlands: den Drang, alles allen recht machen zu wollen, statt mutig zu gestalten. Im Gespräch warnt er vor einer Politik ohne Rückgrat, einer Lean-Community im Tool-Modus und einer Gesellschaft, die sich nach alten Strukturen sehnt. Hoffnung macht ihm die normative Kraft des Faktischen – ob Energiewende oder E-Mobilität, Realität setzt sich durch. Sein Appell: Schluss mit Akzeptanzneurosen – hin zu aktiver Teilhabe und echter Gestaltung.“

#leanmagazin
13. Oktober 2025 um 04:30 Uhr in LeanMagazin von LKB Redaktion
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Wenn Du an Deutschland heute denkst – was macht Dir am meisten Sorgen?

Ich denke, das fundamentale Problem lässt sich gut am Ergebnis der Bundestagswahl vom November 2024 anschaulich machen. Der Souverän bestellte mit Friedrich Merz einen aufgeplusterten Schwadronierer zum Kanzler, in dessen Entourage, der CDU/CSU, heute fast niemand politisches Gestaltungsinteresse über das eigene Wohl und spezifische „Klientelinteressen“ hinaus aufbringt. Die SPD ist leider nicht viel besser. Immerhin disqualifizierte der Souverän bei derselben Wahl die obsolet gewordene, infame FDP: Das ist eine gute Nachricht. Aber aus dieser Wahl ergeben sich auch brennende Fragen: Warum lassen sich relativ viele junge Menschen von einer Partei wie Die Linke verführen, die sich im Ganzen ständig jeder konstruktiven Gestaltung verweigert? Mal abgesehen von dem Viertel der aktiven Wähler:innen bundesweit, die ihre Stimmen den demokratiefeindlichen Parteien AfD und BSW gaben. Dem Souverän, also dem Volk, mangelt es offensichtlich an Fähigkeit zur konstruktiven Unterscheidung. 
Vieles, das wir beobachten, ist Konsequenz dieser Unfähigkeit. Vieles, was in Deutschland heute aktiv getan wird, geschieht aus dem Impetus von Gleichgültigkeit gegenüber gesamtgesellschaftlichen Interessen heraus. Anderes zeugt von Akzeptanzfixiertheit: Das, was wir vorschlagen, gefällt manchen nicht? Dann verwerfen wir es lieber gleich! In Deutschland hat sich Akzeptanzfixiertheit zu einem Mangel an Gestaltungswunsch und -glauben verdichtet, ja geradezu zu einer Sehnsucht danach, in alten Strukturen hängen zu bleiben.

Und was macht Dir Hoffnung?

Wenn man genauer hinschaut: Es tut sich dennoch nicht so wenig! Allein schon durch, wie man so schön sagt, die Normative Kraft des Faktischen. Nehmen wir als Beispiel die Energiewende oder der Übergang zum E-Auto: Trotz aller Hindernisse, die künstlich aufgebaut werden, schreiten diese Prozesse unaufhörlich voran. Klar: Dieser Tage wird in diesen und in fast allen gesellschaftlichen Bereichen ungemein viel kaputt gemacht und politisches wie wirtschaftliches Kapital verplempert, auch durch unsere Bundesregierung. Dennoch treibt die Realität die Legionen schwacher und rückgratloser Akteure in der deutschen Wirtschaft und Politik, die sich der Verführung durch Akzeptanzfixiertheit hingeben, unbarmherzig vor sich her. Lebendigkeit und Komplexität sind nicht aufzuhalten.

Wo siehst Du die größten Chancen – wirtschaftlich, gesellschaftlich oder technologisch – die wir in Deutschland gerade verpassen?

Verpassen? Das würde ich gar nicht so formulieren. Wir verpassen nichts, wir greifen nur spät zu. Woraus sich Konsequenzen ergeben. Nehmen wir zum Beispiel selbstfahrende Autos: In den USA und China sind mancherorts schon rund 25% der Taxis als selbst-fahrende Robotaxis unterwegs. Hierzulande bislang unvorstellbar! In Deutschland hat sich sogar das Lügen-Narrativ festgesetzt, in dem Bereich würde seit Jahren nichts passieren. Verpassen wir dabei etwas? Vielleicht. Die Geschichte lehrt uns jedoch: Wir verpassen vermutlich recht wenig. Schließlich sind die Briten heute auch nicht die einzigen, die Eisenbahnen haben. Sie haben nicht mal die besten Eisenbahnen – bei Weitem nicht.

Welche Veränderung würdest Du Dir am dringendsten wünschen – politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich?

Die gerade getroffenen Beobachtungen würde ich erstmal auf uns selbst, also auf die deutsche Lean- und Business-Community beziehen. Alle, die sich mit Lean befassen, sind gleichzeitig politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich aktiv: Lean selbst ist ein politisch-wirtschaftlich-gesellschaftlicher Akt, wie wir wissen. Ich würde uns selbst als gestaltende Wirtschaftsakteure und Agenten der Lean-Bewegung in die Pflicht nehmen. Das Problem in der Lean-Bewegung, zu der ich mich selbst und alle, die dies lesen zähle, würde ich so beschreiben: Hier ist die Akzeptanzfixiertheit seit Langem besonders dominant. Wir sind keinesfalls anders oder besser als der Durchschnitt der Bevölkerung! Wir sind eher Pioniere der Stillstandsneigung. Sehen wir uns die Symptome der Akzeptanzfixiertheit in der Lean-Szene an: Toolfixierung, mechanistisch-zögerlich betriebene Lean-Anstrengungen, Rückzug von Leanern auf die Bereiche Messung/Regelung/Planung/Steuerung/Dokumentation, überbordende Zertifizierungs- und Trainingsorientierung, verbunden mit maßloser Überschätzung der Wirkungen unserer tatsächlichen Handlungen. Das alles fällt nicht vom Himmel. In der Lean-Community haben sich über Jahrzehnte hinweg Akzeptanzneurosen in einer Art Rückkopplungsschleife aufgestaut und zur Normalität verdichtet. Ich denke, es ist offensichtlich, dass heutige Lean-Vordenker wie Womack, Rother oder Emiliani geradezu obsessiv akzeptanzfixiert sind. Das ist für sich genommen bedenklich, sie teilen diese Neigung aber mit den meisten Lean-Anbieter:Innen und -Praktiker:innen.

Was kann jeder Einzelne – und speziell Menschen im Unternehmensumfeld – konkret beitragen, damit sich etwas bewegt?

Viel mehr, als wir denken. Das ist die Krux mit Akzeptanzfixiertheit: Sie verleitet uns zu geübter Hoffnungslosigkeit und meisterhafter Kleingeistigkeit. An unseren ehemaligen Volksparteien SPD und CDU/CSU, die von diesem Geist fast vollständig durchdrungen sind, lässt sich das bestens beobachten. Die Lean-Community ist leider von demselben Geist erfüllt. Akzeptanzfixiertheit ist aber der Tod gemeinsamer Gestaltung in demokratischer Teilhabe im System und am System. Die Verelendung und Verödung der Lean-Community ist unübersehbar – nicht erst seit heute, sondern spätestens seit den 2000er-Jahren. Es ist Zeit, dass wir uns vom schädlichen Impuls der Akzeptanzfixiertheit lossagen und uns konsequent dem Leitmotiv Aktiver Teilhabe verschreiben. Nicht nur für uns und für unsere Unternehmen, sondern auch für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.



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