Von der Resilienz zur Prosilienz
Oder: Wie wir Zukunft proaktiv gestalten
Es ist mir immer eine Freude, mich auf ein neues Gespräch mit einem sehr spannenden Gast vorzubereiten. Zudem mag ich Ansätze, die den konventionellen Kanon von Konzepten weiterentwickeln. Entsprechend interessiert habe ich das Buch „Aus der Zukunft lernen“ gelesen, das Professor Thomas Druyen (zusammen mit Valeska Mangel) verfasst hat. Denn dabei ist mir ein Element aus seinem Konzept der Zukunftsgestaltung sofort ins Auge gesprungen: Prosilienz!
Es hat sich längst herumgesprochen, dass Fragilität gerade in der heutigen, turbulenten Zeit keine gute Eigenschaft ist – sowohl für Personen als auch für Organisationen. Sicher, es gibt inzwischen sehr gute Therapien und hervorragende Hilfe, für die einen durch Psychotherapeuten, für die anderen in Form von Turnaround-Experten. Letztlich ist aber besser dran, wer gar nicht erst in die Not gerät, auf deren Kompetenz zurückgreifen zu müssen.
Ist dies der Fall, ist häufig von Resilienz die Rede – und davon, wie wichtig sie ist. Völlig zu Recht, denn gerade in der modernen VUKA-Welt mit ihren zahlreichen, schnellen undradikalen Veränderungen gewinnt das Thema Widerstandskraft täglich an Bedeutung. Anfang des Jahres konnte ich dazu das Interview „Mit Resilienz-Power erfolgreich durchs Leben“ mit Deutschlands führendem Experten auf diesem Gebiet führen, mit Dr. Denis Mourlane. Und es war mir eine echte Freude!
Das Spannende ist nun: Die Debatte entwickelt sich immer weiter. Ursprünglich wurde Resilienz wie folgt beschrieben:
„Resilience is the ability to withstand adversity and bounce back from difficult life events.”
Demnach geht es – frei übersetzt – um die Fähigkeit, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen und stets zu alter Stärke zurückzukehren.
Das Ganze lässt sich aber auch noch einen Schritt weiterdenken. So definiert zum Beispiel die US-Psychologin Karen Reivich, eine der weltweit führenden Expertinnen auf diesem Gebiet, Resilienz noch umfassender:
„Resilience is the ability to navigate adversity and to grow and thrive from challenges.”
So sehr ich mit dem ersten Konzept der Resilienz einverstanden bin: Reivichs Gedanke fasziniert mich noch mehr, denn dieser weist eine große Nähe zu einem Konzept auf, das mich schon seit einer Weile beeindruckt – das von Nassim Nicholas Taleb entwickelte und 2012 veröffentlichte Konzept der „Antifragilität“. Taleb, der in der Finanzkrise mit einem Buch über „Schwarze Schwäne“ (seltene, unvorhersehbare Ereignisse) bekannt geworden war, hatte kein Antonym zum Zustand der Fragilität gefunden und kurzerhand seinen eigenen Begriff kreiert.
Was das Konzept der Antifragilität vom Begriff der Resilienz oder Robustheit unterscheidet, lässt sich vielleicht am einfachsten mithilfe des berühmten Zitats von Friedrich Nietzsche erklären:
„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
Ein gutes, sehr greifbares Beispiel für diesen Gedanken liefert das vom Berliner Chirurgen Julius Wolff aufgestellte Wolff'sche Gesetz aus dem 19. Jahrhundert. Es besagt, dass die Knochendichte und somit die Festigkeit von Knochen durch ihre gezielte Belastung zunimmt. Heute lässt sich dieses Phänomen gut im Thaiboxen beobachten, wo manche Profis nach mehreren Jahren Training selbst Palmen brechen können sollen, mit ihren Schienbeinen – und das bereits mit wenigen Schlägen.
Genau hier kommt Thomas Druyen ins Spiel, ein deutscher Soziologe, der als Vermögensforscher bekannt wurde und Direktor des Instituts für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien ist. In dem eingangs erwähnten Buch, das 2023 erschien, unterscheidet er zwischen Resilienz als Widerstandskraft – und Prosilienz als Zukunftsfähigkeit:
„Prosilienz ist die erlernbare Kompetenz, mit Unvorhersehbarkeit, mit Prävention und mit Experimentierfreude pragmatisch umzugehen.“
Anders als die klassische Resilienz, die sich auf die tendenziell reaktive Fähigkeit bezieht, mit Rückschlägen umzugehen und Krisen gut zu bewältigen (sprich wenn diese bereits eingetreten sind), betont Prosilienz die Bedeutung einer proaktiven Vorbereitung – und die Fähigkeit, künftige Schwierigkeiten und Chancen richtig zu antizipieren. Während Resilienz dazu beiträgt, dass Menschen in Krisen stabil bleiben, hilft Prosilienz, künftige Krisen zu verhindern oder zumindest besser zu handhaben.
Im Wesentlichen ist Prosilienz eine Kombination aus zwei Fähigkeiten:
- Vorausschauendes Denken: Gemeint ist die Fähigkeit, künftige Entwicklungen, mögliche Krisen oder neue Herausforderungen zu erkennen, bevor sie eintreten. Menschen, die prosilient sind, beschäftigen sich nicht nur mit der Bewältigung aktueller Probleme, sondern auch damit, wie sie sich auf die Zukunft vorbereiten können.
- Proaktives Handeln: Prosilienz bedeutet nicht nur, künftige Probleme gedanklich vorwegzunehmen, sondern auch die Fähigkeit, schon heute Schritte zu unternehmen, um diese Probleme zu vermeiden oder so weit wie möglich zu minimieren. Es geht darum, das eigene Handeln so zu gestalten, dass potenzielle Krisen oder Herausforderungen nicht eskalieren oder in ihren Auswirkungen wenigstens abgemildert werden können.
Im Buch „Aus der Zukunft lernen“ beschreibt Druyen die Prosilienz als eine erlernbare Kompetenz. Sie erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit der Zukunft und das Bewusstsein, dass die Herausforderungen der kommenden Jahre andere sein werden als die, die wir heute kennen. Es geht darum, die Zukunft als Spielfeld zu sehen, auf dem wir aktiv mitmischen, statt nur am Spielfeldrand zu stehen und zu hoffen, dass der Ball uns nicht trifft.
Vor allem dieser Ansatz, aktiv mit dem Leben umzugehen, fasziniert mich, sind wir darindoch keine Beobachter, sondern Beteiligte, die mitgestalten. Das mag anstrengend sein, scheint mir aber lohnend.
Professor Druyen betont:
„Die Zukunft ist das Ergebnis unserer Taten, also machen wir uns fit für unentwegte Veränderung, nutzen wir unsere Kreativität und überwinden wir den inneren Schweinehund.“
Vor allem in Kombination mit einem weiteren von Thomas Druyen genutzten Begriff schließt sich der Kreis der Zukunftsgestaltung. Vorsicht ist besser als Nachsicht, aber Vorsicht ohne Handeln ist nicht viel wert. Es geht somit darum, vom Denken ins Handeln zu kommen oder zumindest den Abstand zwischen Erkenntnis und Handeln zu verringern. Druyen nennt es „die Ethik des Machens“ und spricht von „Konkrethik“. In diesem Verständnis reicht es nicht, nur zu wissen, was richtig ist – wir müssen es auch tun.
Traditionelle Ethik beschäftigt sich häufig mit moralischen Dilemmata oder universellen Prinzipien wie Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit. Diese Überlegungen sind oft abstrakter Natur und weit entfernt von der Realität des täglichen Lebens. Konkrethik versucht, diese Lücke zu schließen, indem sie sich auf umsetzbare Maßnahmen konzentriert, die Menschen im Alltag ergreifen können. Es geht darum, Ethik aus der Theorie in die Praxis zu überführen.
Konkrethik stellt nicht nur die Frage „Was ist moralisch richtig?“, sondern auch: „Wie können wir das moralisch Richtige konkret umsetzen?“ Sie fordert dazu auf, ethische Entscheidungen nicht nur zu denken, sondern tatsächlich zu leben. Sie fordert, dass jeder Mensch Verantwortung für seine Handlungen und deren Auswirkungen übernimmt. Oder wie Druyen sagt:
„Konkrethik manifestiert die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns.“
Es ist eine Denkweise, die vor allem in der heutigen Zeit mit all ihren Unsicherheiten an Bedeutung gewinnt.
Ein zentrales Element der Konkrethik ist die Idee, dass wir künftige Entscheidungen von deren potenziellen Auswirkungen her denken sollten, in einer Art Rückblick, den wir schon heute – in der Gegenwart – vornehmen. Diese prosiliente Denkweise soll helfen, die Zukunft nicht nur zu planen, sondern auch aktiv zu gestalten, indem wir ethisch fundierte und zielgerichtete Entscheidungen treffen.
Wir wissen zum Beispiel, dass Plastikmüll in einer Welt ohne Veränderung zu einem immer größeren Problem für unsere Umwelt wird. Konkrethik würde uns ermutigen, dies nicht nur vorauszusehen und zu diskutieren, sondern aktiv etwas zu ändern. Folgen wir diesem Impuls, fangen wir vielleicht an, unsere eigenen Einkaufstaschen mitzubringen, für den Kaffee unterwegs einen Mehrwegbecher zu benutzen oder sogar in unserer Nachbarschaft eine Aufräumaktion zu organisieren.
„Wissen ohne Umsetzung wäre bei unserer Absicht brotlose Kunst.“
Mit anderen Worten: All unser Wissen über die Probleme der Welt ist nutzlos, wenn wir nicht anfangen, etwas gegen diese Probleme zu unternehmen. Nicht ohne Grund trägt das Buch den Untertitel „Der Leitfaden für konkrete Veränderung“.
Professor Druyen fasst es perfekt zusammen:
„Prosilienz ohne Konkrethik wäre reine Strategie, Konkrethik ohne Prosilienz wäre naiv.“
Es geht somit darum, vorausschauend UND verantwortungsvoll zu handeln.
Konkrethik betont auch die Machbarkeit ethischer Handlungen. Thomas Druyen hebt hervor, dass es nicht darum geht, perfekte Lösungen zu finden oder moralisch makellos zu handeln, sondern in einer gegebenen Situation das Bestmögliche zu tun. Viele ethische Dilemmata sind komplex, weshalb es für sie keine einfachen, klaren Antworten gibt. Konkrethik fordert uns auf, pragmatisch zu handeln und das zu tun, was in einer bestimmten Situation ethisch vertretbar und auch machbar ist.
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder ein bisschen mehr prosilient und konkrethisch handelt. Eine Welt, in der wir Probleme angehen, bevor sie entstehen, und in der aus gutenAbsichten konkrete Taten erwachsen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal Professor Druyen zitieren:
„Die Zukunft erfordert Mut, Weitsicht und konkrete Handlungen – Prosilienz und Konkrethik sind die Schlüssel, um dies zu erreichen.“
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