Lean-Beratung im Gegenwind

Lean-Beratung im Gegenwind

Berater*innenkollegen berichten mir oft, sie bekämen "Gegenwind" von Kunden, sobald es um anspruchsvollere Themen von Veränderung, Lean-Transformation und Organisationsgestaltung gehe. Ein Kollege formulierte das mir gegenüber kürzlich einmal recht dramatisch: "Wie ist es mit dem Gegenwind? Die Zweifel verfangen sich darin und suchen nach Nahrung." Ich vermute mal: Das hier ausgedrückte Gefühl hat jede Beraterin und jeder Berater schon mal gespürt! 

22. Juni 2023 um 04:30 Uhr von Niels Pfläging | Red42


Klar: Es handelt sich dabei um ein Standardproblem in der Beratungsbeziehung: Unser Kunde kann nicht wissen (also: tiefgreifend verstehen), welches Problem ihn plagt. "Ein System kann sich nicht selbst verstehen." Oder, wie W. Edwards Deming es ausdrückte: "Du kannst eine Menge über Eis lernen, aber gleichzeitig sehr wenig über Wasser wissen." Wir kennen und verstehen den "anderen", den besseren Systemzustand nicht, den wir uns erhoffen oder den wir uns wünschen. Unsere eigene Gegenwart steht uns bei er Erkenntnis über die Andersartigkeit eines besseren Systemzustands im Wege.

Genau deshalb gibt es Beratung. Oder "outside knowledge", wie Deming das nannte.

Das eigentliche Problem liegt woanders

Es gibt also in der Beratungssituation auf Kundenseite stets ein Wissens- und Verständnisproblem, das ganz natürlich ist. Das streng genommen sogar vorhanden sein muss, dieser Mangel hat ja den Beratungsbedarf überhaupt erst hervorgebracht. Könnten Kunden sich selbst helfen, dann bräuchten sie keine Beratung. So weit, so normal. Als Berater*innen stehen uns nun aber zwei grundlegende Handlungsmuster zur Verfügung, um der "beharrlichen Verständnislosigkeit" unserer Kund*innen zu begegnen. Und hier liegt eigentlich in der Beratungsbeziehung des Pudels Kern: Wir Berater*innen müssen gleich zu Beginn der Beziehung eine folgenreiche Entscheidung treffen: Wir können entweder wirksam sein, oder gefällig. Das klingt simpel. Ist aber fundamental. Denn egal was wir beratend denken oder tun, wir werden immer in einem dieser beiden Muster unterwegs sein: Wirksam oder gefällig.

Silke Hermann und ich haben diese wichtige Unterscheidung in unserem Buch Komplexithoden thematisiert:

Gefällig oder wirksam – das ist kein Urteil. Sondern eine fundamentale Unterscheidung und eine Wahlentscheidung für alle Berater*innen: Alles, was wir tun, ist Intervention – also müssen wir uns entscheiden, ob wir zu Interventionen greifen, die Selbstreflexion und höheres Bewusstsein erzeugen - oder nicht. Wir können aber nicht beides tun oder einfach zwischen den Mustern von Wirksamkeit und Gefälligkeit wechseln. Denn Kunden, die es gewohnt sind, dass wir ihnen nach dem Mund reden, denen wir monatelang Honig ums Maul geschmiert haben, werden es nicht goutieren, wenn wir plötzlich das Muster ändern und sie kritisieren, ihre Handlungen infrage stellen oder "unbequeme" Wahrheiten aussprechen.

Anders formuliert: Alle Berater haben exakt diejenigen Kunden, die sie verdienen. Mit unseren ersten Interaktionen programmieren wir die Erwartungen unserer Kunden. Ob wir es nun wollen oder nicht.

Wirksamkeit – dieses Muster schliesst ein:

  1. "Einladender Widerspruch" gegenüber dem Kunden. Kunden brauchen den einladenden Widerspruch, um zu Erkenntnis zu gelangen. Erkenntnis auf Kundenseite ist notwendig - wie oben gezeigt.
  2. Vom Kunden respektiert werden wollen. Will der Kunde Design Thinking, beispielsweise, dann fragen wir ihn: "Was soll dadurch besser werden?"
  3. Kundenerkenntnis muss Problemlösung vorangehen. Das Gegenteil ist: Lösung und Tools ohne vorhergehende Einsicht beim Kunden einbringen. Ich nenne das "Toolismus". 96% des Beratungsmarktes betreiben Toolismus. In einer besseren Welt würden wir diesen Markt selbstverständlich nicht "Beratung" nennen, sondern ihn als das bezeichnen, was er ist. Nur schätzungsweise 4% des Beratungsmarkts betreiben Beratung "im engeren Sinne." Nämlich: "Rat, Methode oder Theorie, die geliefert werden, nachdem das Problemverständnis des Kunden auf ein höheres Niveau gebracht wurde."
  4. Kein Pitchen. Nach Festhonorar und "value-based" abrechnen.

Gefälligkeit - zu ihren Mustern gehören:

  1. Dem Kunden das geben, wonach er "verständnislos" (wie wir oben gesehen haben) verlangt: Will der Kunde Design Thinking, dann bekommt er Design Thinking.
  2. Vom Kunden gemocht werden wollen. Bloss nicht widersprechen. Häufig gedachter Satz: "Ich muss doch mit dem Kunden kopplungsfähig bleiben!",  oder "Dem Kunden da begegnen, wo er steht!"
  3. Tools anbieten. Das ist sehr gefällig. Gefällig ist auch, zu behaupten, dass Tools die vom Kunden erwartete Veränderung erzeugen werden, wenn man sie nur "richtig" einsetzt.
  4. Fallbeispiele als "Beweis" verwenden. "Google macht das auch" – dieser Satz funktioniert immer. Oder "Im Silicon Valley ist das der Renner." Gut ist auch die Kombination aus Tool und Fallbeispielbeweis. Beispiel: Das "Spotify-Modell."
  5. Pitchen, an Ausschreibungen teilnehmen. Nach Zeit oder "Aufwand" abrechnen (Stunden- und Tagessätze). Das ist sehr gefällig.

Beratung als mönchische Wirksamkeitsorientierung

Natürlich ist das Handeln im Muster der Wirksamkeit recht unangenehm. Es nervt. Und es birgt Risiken. Denn eine Kundenbeziehung, die auf der Beziehung zwischen Persönlichkeiten "auf Augenhöhe" begründet ist, ist empfindlicher, als Heerscharen anonymer Beratungs-Orks beim Kunden herumlungern zu haben. Aber, wie gesagt: Der Widerspruch des Kunden ist ein elementarer Bestandteil von Beratung – und ebenso: der Widerspruch des Beraters gegenüber dem Kunden immer dann, wenn kundenseitig die Gewinnung von Einsicht erforderlich ist. Was ja durchaus häufig der Fall sein kann.

Diese Unsicherheit und Reibung einer Beratungsbeziehung zu ertragen, sie vielleicht sogar zu schätzen oder zu geniessen, das ist vermutlich nicht jedermanns Sache. Es muss aber auch auch nicht jeder Berater sein! Anders formuliert: Wenn du dazu nicht bereit oder willens bist, dem Kunden zu widersprechen oder seinen Widerspruch auszuhalten, dann ist das kein Problem. Aber es wäre für die Zunft der Beratenden vermutlich besser, dich dann nicht als Berater zu bezeichnen. Es gibt so viele andere schöne Rollen und Berufe.

Arbeit im Muster beraterischer Wirksamkeit ist also wenig Tool-lastig, wenig standardisierbar, wenig industrialisierbar. Dafür aber stärker beziehungsorientiert, persönlicher und tendenziell nicht zwischen Personen übertragbar. Diese Art der Tätigkeit ist weniger zeitaufwendig. Sie ist "didaktisch", da die Erzeugung von Einsicht ihre vornehmste (wenn auch nicht einzige) Absicht ist.

Kurzum: Es gibt keinen „Gegenwind“ vom Kunden. Was es gibt, ist Ratlosigkeit auf der Seite der Beratenden. Und die lässt sich durch Üben, durch Methode bzw. Theorie, durch Supervision verringern und ganz überwinden. Oder du kannst dich entscheiden, lieber „einfachere“ Lösungen und Produkte anzubieten. Gefällige Lösungen. Die meisten machen das und werden vielleicht sogar ein wenig mehr gemocht.

***

Buchempfehlungen: 

Komplexithoden – der Bestseller von Silke Hermann und Niels Pflaeging - erschienen im Verlag Vahlen.

What would Deming do? - das neue Buch mit mehr als 160 Zitaten des Lean-Übervaters W. Edwards Deming, herausgegeben von Niels Pfläging - hier ins Buch hineinschauen!

OpenSpace Beta - ein neuer, zeitlich gekastelter Ansatz zur Beratung in transformationaler Organisationsentwicklung bzw. -gestaltung. Von Silke Hermann und Niels Pfläging. Mehr Infos zu OpenSpace Beta: www.openspacebeta.com



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