Über die Bedeutung von Führung
Als mich Ralf Volkmer dazu eingeladen hat, für LeanBase.de einen Artikel oder sogar eine Kolumne zu schreiben, habe ich das Themenanliegen auf Twitter weiter gegeben, um allgemeines Interesse abzufragen.
Herausgekommen ist dabei ein ganzer Katalog spannender Unbestimmter, die sich alle unter der von Dr. Karin Kelle-Herfurth vorgeschlagenen sortieren lassen, denn sie fragt nach Kommunikationsorganisation:
Mich würde Deine Sicht auf (neue) Sprache, Haltung zu Begriff und Bedeutung von Führung interessieren. „Führungskraft“ wird nach wie vor formal definiert, Personen und Positionen zugeschrieben, obwohl sie auf verteilten Schultern, im unsichtbaren Raum und unbewusst stattfindet.
Die Funktion von Unternehmen besteht darin, Kommunikation zielfunktional zu reorganisieren.
Dafür ist es nicht nur im technischen und fachlichen Bereich kontinuierlich auf Fortbildung seiner Mitarbeiter angewiesen, sondern auch und besonders im kommunikativen.
Kommunikationskompetenz ist Ressourcenverwaltungskompetenz.
Kommunikation kann, wenn dysfunktional reorganisiert, Unmengen an einsparensfähiger Zeit und Energie verschlingen, ohne dass sich Organisation und beteiligter Mensch dieser Tatsache bewusst werden müssen.
Das hat unter anderem damit zu tun, dass die meisten Kommunikationstechniken auf veralteten und dysfunktionalen Kommunikationsmodellen aufsetzen. Diese können weder mit den Dynamiken in den kommunikativen Riesenwellen mithalten, die heute nicht nur über den Planeten, sondern eben auch über und durch Mensch und Organisation rollen und uns wegzuspülen drohen – noch können sie zu realisieren helfen, dass sie für begrenzte Räume und Gruppendynamiken konstruiert wurden. Sie stammen aus einem anderen Jahrhundert, in dem man die Tür noch schließen und in dem die Forderung Es einfach machen! scheinbar noch Sinn ergab. Sie machen blind.
Die heutige tolle Frage stammt von Kristin Eissfeldt:
Mein Favorit wäre, über Dein Herangehen zu lesen in Sachen: Welche unabdingbaren Leadership-Kompetenzen braucht's in der Krise? Warum konkret ist das so? Wie kommt Mensch dort hin? Was soll er dann damit machen, dass es „am System heilt“ und welchen Nutzen hat das für wen/was?
Eine fantastische Antwort auf diese Frage hat die bemerkenswerte Christiane Amanpour am 5. Mai 2020 geliefert, als sie das Verhalten von Top-Leadern der Nationen der Welt im Kontext von Corona untersucht hat:
Each of these leaders communicated tough „Stay at home, stay alive!“-messages, combined with empathy, calm, competence and hard work and always, always favouring science over politics.
Krisenfunktionales Leadership zeichnet sich meiner Ansicht nach durch folgende, Christiane Amanpour ergänzende, Eigenschaften aus:
- Sachlich gehaltene Empathie, die nicht übergriffig wird, die respektvoll auf Distanz bleibt, die Würde von Individuum, Team und Organisation achtend.
- Die Fähigkeit, erwachsene, „toughe“ Entscheidungen zu fällen, auch wenn das unbequem wird.
- Die eigene Ansicht ändern können, wenn sich zeigt, dass sie den Fakten nicht gerecht wird.
- Entscheidungen auch dann zu fällen, wenn nicht hinreichend Daten vorliegen.
- Auf Komplexitätsmanagementstufe 5 hinarbeiten und darauf achten können, welche Leader an welcher Stelle mit welcher Komplexitätsmanagementstufe benötigt werden.
- Das eigene Projekt ändern können, wenn sich zeigt, dass ein anderes besser funktioniert.
- Ruhe bewahren können – und vor allem: Ruhe zeigen zu können.
- Harte Arbeit nicht zu scheuen und darin stets voranzugehen.
- Primus inter pares können – funktionale Kompetenzhierarchien mit organisieren und respektieren.
- Kompetenz auch dann wahren, wenn das unmodern geworden ist.
- Grundsätzlich daran zu arbeiten, symmetrische/kontravalente Konflikte in kreative zu verwandeln und soziale Atmosphären motivieren, in denen kreative Konflikte dominieren können.
- Auf Grenzdurchlässigkeit des Unternehmens achten können, so dass nicht alle Lösungen von einem selbst, vom Team selbst, vom Unternehmen selbst kommen müssen.
Vor allem: Kontinuierlich am eigenen inneren Wachstum arbeiten, kontinuierlich über sich selbst hinauswachsen und sich die Fähigkeit erarbeiten, Spiel und Ernst voneinander unterscheiden zu können. |
Wer lange an (verhältnismäßigen) Wohlstand gewöhnt ist, dem fallen Krisen nicht gerade leicht. Wir müssen das Problem haben, um es bearbeiten zu wollen, und selbst dann ist keineswegs gegeben, dass es auch funktional bearbeitet wird.
Wer sich unter politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leadern umsieht, wird große Unterschiede zum Beispiel unter jenen feststellen können, die existenzielle Krisen kennen und damit anhaltend zu tun hatten und jenen, die davon weitestgehend verschont geblieben sind.
So wünschenswert Wohlstand, Gesundheit und relatives Konsumglück auch sein mögen – sie können einschläfern und dazu führen, dass Spiel und Ernst nicht mehr unterschieden werden können, weil die Situation ermöglicht hat, mit Modellen höherer Komplexität aber niedrigerem Realitätszwang zu arbeiten.
Das ist der eine Punkt.
Der andere: Ichsucht, Egoismus, Egozentrik – die Unfähigkeit zu erkennen, wann jemand Anderer die funktionalere Lösung, den besseren Gedanken, das wirksamere Projekt hat. Und/oder: der Unwille das Eigene zugunsten von etwas Anderem aufzugeben, weil man bereits viel da hinein investiert hat – sei es an Geld oder anderer Energie – oder weil man noch an symmetrische Konflikte glaubt.
Führen wir mal eine verhältnismäßig einfache Unterscheidung auf der Grundlage eines neutralen Manipulationsbegriffs ein:
Aus systemisch-realkonstruktivistischer Perspektive muss ich einen Manipulationsbegriff ablehnen, der nahelegt, ich könne in jemand Anderen Information hineinproduzieren.
Wenn Menschen manipulierbar sind, dann nur in dem Sinn, dass sie auf ihnen gelieferte Trigger reagieren. Die Bereitschaft dazu muss vorhanden sein. Je ruhiger jemand mit sich selbst umgehen, je eigenverantwortlicher ein Mensch denken kann, je mehr er über Rhetorik weiß und sie von rationaler Argumentation unterscheiden kann, desto unwahrscheinlicher, dass er sich triggern lässt. Traumatisierung und Konditionierung spielen bei Charakterbildung so lange eine Rolle, bis sich der Betreffende davon frei machen kann.
Das geklärt, können wir über einen anderen Manipulationsbegriff nachdenken, der natürlicher, systemischer funktioniert.
Manipulation | zielgerichtet sich selbst und/oder Andere betrügen |
Wenn Kinder spielen, vertiefen sie sich so in ihr Spiel, dass sie Spiel und Wirklichkeit nicht mehr auseinander halten können.
Tiere üben Jagd-, Flucht-, Sex- und andere Spiele und lernen so die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um später auf sich selbst gestellt überleben zu können.
Wollten wir auf dieser Grundlage Kinder und Erwachsene voneinander trennen, kämen wir zu einem Erwachsenen-Begriff, der zwischen Spiel und Wirklichkeit unterscheiden kann:
Erwachsener |
Jemand, der weiß, dass Wirklichkeit in gemeinschaftlicher Orientierung konsensuell und kooperativ zustande gebracht wird. |
Spiele emergieren als Lernverhalten. Jedes Spiel funktioniert als Mimikry von Wirklichkeit manipulativ. Das Kind kann die Manipulation für wirklich halten, der Erwachsene erkennt, dass Wirklichkeit durch Orientierung und Kooperation zustande gebracht wird. Das Tier regt sich zum Spielen an und hört stufenweise damit auf, wenn der Spaß nachlässt – es fällt dann in Wirklichkeit zurück.
Menschen können ihr Spiel ein- und ausschalten und Spiele als individuelle Errungenschaften begreifen, aber auch dann noch steckt hinter jedem Spiel ein eingeborener Lernautomatismus: Menschen können sich aus der Wirklichkeit ins Spiel zurückziehen und sich darin wohl fühlen. Sie können sich dafür entscheiden, im Spiel zu bleiben. Wenn wir aber überleben wollen, müssen wir unsere Augen öffnen und den Ausschalter rechtzeitig betätigen.
Erkennen zu können, wann das Spiel aufhören muss, ist spielentscheidend für gutes Leadership. |
Nach unserer Referenz führen Kinder Kriege, versuchen Gewinne über Andere zu erreichen, bleiben selbst dann noch im alles zerstörenden Wettbewerb, wenn die daraus resultierenden Metakrisen in ihrer direkten Nachbarschaft angekommen sind.
Erwachsene be-greifen, dass und wie Kooperation(sfähigkeit) darüber entscheidet, dass und wie sie überleben. Sie erkennen die Bedeutung langfristigen Denkens. Sie wissen, dass sie dafür enkelfähig denken und handeln müssen.
Gutes Leadership geht nur mit Erwachsenen. Wer sich selbst, seine Eigeninteressen, sein Ego, seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen vor Wirklichkeit stellt, kann oder will Spiel nicht (mehr) von Wirklichkeit unterscheiden. |
Gesellschaften in (verhältnismäßigem) Wohlstand verkraften kindische Leader so lange, bis die Konsequenzen des Spiels in Wirklichkeit vor Ort einbrechen und Existenzen in einem Umfang zerstören, dass ihre Subsysteme damit beginnen müssen, sich vollständig neu zu orientieren und anzupassen.
Abhängig vom Wohlstand und von Bildung dringen Krisen entsprechend graduell in die Wirklichkeiten vor Ort vor. Emulierte Wirklichkeiten (Spiele) werden entsprechend der Fähigkeiten der Betreffenden/Betroffenen abgebaut. Je komplexer und systemischer, dabei aber auch fähig zur Respezifikation jemand denken kann, desto wahrscheinlicher, dass die Krise ankommt, bevor sie Schaden angerichtet hat, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Raubtierkapitalismus als krisenentscheidendes Spiel zu begreifen, ist die derzeit alles zurechtrückende Frage, die wir an jeden Leader stellen müssen. Von dort aus können wir sehen, ob er die notwendigen Schritte unternimmt dazuzulernen, umzudenken und persönlich zu wachsen – oder ob er das unterlässt.
Empathie, Ruhe, Kompetenz, harte Arbeit und wissenschaftliche Fakten vor Politik zu stellen, reichen, wir wir jetzt erkennen können, allein nicht aus. Es braucht den unbedingten Willen zur Wirklichkeit vor Ort und Denken der
Kybernetik 3. Ordnung: Reflexiv, (selbst)reflektierend/-reflektiert, injunktiv, mit der Fähigkeit zu operationalem und sinnlich wahrnehmbaren Beschreiben. |
Am System „heilt“ dieses Denken deshalb, weil es sich selbst integriert und sich Herausforderungen nicht nur stellt, sondern sie sucht.
Krisenfunktionalität erkennen wir schlussendlich daran, dass wir die Krisen bewältigen.
Mit Präventions- und anderen mit Metakrisen kommenden Paradoxien leben zu können, dürfen wir bei Erwachsenen voraussetzen.
Gute Leader werden dafür sorgen, dass soziale Architekturen für krisenfunktionales Lernen für Mitarbeiter und Bevölkerung gebaut werden. Sie werden erkennen, dass es nicht auf sie allein ankommen darf, weshalb sie stets die kognitive und kommunikative Emanzipation aller anderen im Auge behalten werden.
Sie wissen: Das hier schaffen wir nur gemeinsam.
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