Bestände sind das Böse

Bestände sind das Böse

– oder vielleicht doch nicht?

#leanmagazin
am 21. 08. 2020 in LeanMagazin von Mario Buchinger


Jeder kennt sie, die berühmten „sieben Verschwendungsarten“. Und es gibt nach wie vor viele, die tatsächlich glauben, man müsse lediglich auf Jagd nach eben diesen Verlusten gehen, um unternehmerisch erfolgreich zu sein.
Dieses Dogma hat sich im Laufe der Jahre stark verfestigt, weil dahinter die klassische Orientierung auf die Steigerung von Effizienz und damit mehr Profit in Unternehmen steckt. Dass man mit diesem Ansatz ziemlich daneben liegt, wird spätestens dann deutlich, wenn man an einem bestimmten Problem arbeitet, weil man dort die größte Ratio identifiziert hat. Für das Unternehmen wäre aber ein kleineres Problem mit deutlich weniger Potential relevanter, wenn dabei die  Zufriedenheit der Kunden stärker beeinflusst wird. Dieser Spagat wird beim Thema Bestände besonders deutlich.

Bestände sind böse, weil sie viel Kapital binden

Diese Erkenntnis und der daraus resultierende Fokus auf das so genannte „Current Capital“ sind in vielen Unternehmen besonders wichtig, weil im Material besonders viele Kosten versteckt sind. In den sieben Verschwendungsarten gibt es neben Beständen auch die Überproduktion. Während bei Überproduktion fertige Güter eines Wertstroms gemeint sind, so sind bei Beständen Teile in und zwischen den Prozessen zu verstehen. Dabei können auch Halbfertigteile zwischen einzelnen Wertstromabschnitten gemeint sein. Ist man in der Lage, Güter mit möglichst wenig bis keinen Beständen zu produzieren, so wäre dies aus Kostensicht eine erstrebenswerte Angelegenheit. Jedoch konkurrieren hier Bestände mit anderen Parametern, wie beispielsweise Auslastung oder Liefertreue, die ebenfalls eine Auswirkung auf die Gesamteffizienz einer Prozesskette haben.

Bestände sind notwendig

Bei Beständen gilt eben nicht, dass man sie um jeden Preis reduzieren müsse, weil sie ja so böse sind. Bestände müssen zwar so niedrig wie möglich, aber auch so hoch wie nötig sein. Sie sind stets ein Ergebnis, niemals eine Eingangsgröße, denn sie zeigen, wie instabil und asynchron die einzelnen Prozesse sind.

Je synchroner Prozesse ablaufen und je weniger Störungen im System sind, desto kleinere Bestände sind nötig, um Prozessschritte zu verbinden. Ist man also der Ansicht, dass die vorhandenen Bestände zu hoch sind, ist es falsch, diese einfach zu reduzieren. Es ist zwingend notwendig, zunächst die Prozesse drumherum zu verstehen, um sich ein Urteil zu erlauben, welche Bestandsgrößen tatsächlich notwendig sind. Erst wenn man im Prozess etwas verändert hat, beispielsweise in Richtung Stabilität oder Annäherungen bei den Zykluszeiten, kann man die Bestände dazwischen reduzieren.

Es kann aber auch vorkommen, dass Bestände erhöht werden müssen. Dies kann passieren, wenn man beispielsweise feststellt, dass ein Prozess aktuell besonders instabil läuft. Diese Unsicherheiten müssen dann durch entsprechende Puffer kompensiert werden. Hier wird oft der Fehler gemacht, dass die Effizienz durch kleinere Bestände wichtiger erscheinen, als die Zufriedenheit der Kunden. Dieses Verhalten ist meist dem klassischen Silodenken zuzuschreiben, wonach die Verantwortlichen lediglich nach ihren Kosten innerhalb ihres eigenen Bereich bewertet werden und nicht auf Basis des Gesamtbildes und der daraus resultierenden Kundenzufriedenheit.

Es gibt auch immer wieder Situationen, in denen Kosten für Bestände mit anderen Kosten in Konkurrenz stehen. So kann es passieren, dass ein Prozess in drei Schichten und der anschließende Prozess zweischichtig betrieben werden, da die Personalkosten für eine dritte Schicht vermieden werden sollen. Hier muss diese Entscheidung durch entsprechend höhere Bestände zwischen diesen beiden Prozessen kompensiert werden. Es ist nicht möglich, Personalkosten und Bestandskosten gleichermaßen zu reduzieren. (Anmerkung für Freunde der Physik: Eine Analogie zur Heisenberg’schen Unschärferelation ist hier klar erkennbar).

„20% weniger gehen immer“

Diese Aussage aus dem Manager- und Berater-Bullshit-Lexikon, die man immer wieder hören kann, ist ein klarer Indikator, dass die betreffende Person, den Sachverhalt nicht verstanden hat. Gerade viele Top-Manager äußern solche oder ähnliche Bemerkungen bei Werksrundgängen immer wieder, um eine vermeintliche Kompetenz zu suggerieren. Jedoch allein ein Urteil über die Bestandshöhe ohne Prozesskenntnisse zeigt deren Disqualifikation.

Eine richtige Frage könnte eher sein, inwiefern man erkennen könne, ob man zu viel oder zu wenig Bestände hat? Was nämlich oft zu beobachten ist, ist mangelnde Transparenz. Transparenz im Bezug auf die Erkennbarkeit der richtigen Bestandshöhe, um die Kundenerwartungen zu erfüllen. Hier sind durchaus auch interne Kunden-Lieferanten-Verhältnisse gemeint. Bei der genaueren Betrachtung, welche Bestände tatsächlich notwendig sind, kann herauskommen, dass es zu viel Material ist, es kann aber auch das Gegenteil herauskommen. In vielen Fällen hat man in Summe nicht zu viel Bestand, sondern man hat nicht die richtigen Varianten in der richtigen Menge verfügbar. Die Sorge, dass man bei einer Überführung von einem undefinierten Bestand in einen definierten Bestand mehr Material aufbaut, ist daher in den meisten Fällen unbegründet, denn eher das Gegenteil trifft zu.

WIP und SAP

Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass in vielen Fällen mit dem Begriff WIP falsch umgegangen wird. WIP steht für „Work in Process“ und, wie die der Begriff schon aussagt, geht es um Material, dass sich im Bearbeitungsprozess befindet. Im Sinne der reinen Lehre ist also nur Material gemeint, das aus zumeist technischen Gründen im Bearbeitungsprozess enthalten sein muss. Ein typisches Beispiel ist ein Waschvorgang, bei dem mehrere Teile in einem Waschkorb liegen und gewaschen werden.

In der SAP-Welt wird jedoch suggeriert, dass WIP für alles an Beständen steht, der in einem Kostenstellenbereich liegt. Diese Pauschalisierung ist deshalb gefährlich, weil man Material innerhalb eines produktiven Prozesses mit Material, das zwischen den Prozessen rumliegt, gleichgesetzt wird. Die Ursachen für diese Bestände sind aber grundlegend verschieden. Während der Bestand im Prozess technisch sinnvoll sein kann, weil ein Vorgang eine gewisse Anzahl an Teilen erfordert. So können Bestände zwischen den Prozessen Hinweise auf Verbesserungspotentiale sein. Hier hat die SAP-Welt einen sachlich richtigen Begriff in einer Art verändert, dass mit Beständen oft falsch umgegangen wird.

Bestände dürfen kein Dogma sein

Obwohl es immer noch viele Führungskräfte und Lean-Berater gibt, die in einer dogmatischen Art und Weise von der „Produktion mit Null Beständen“ schwärmen, hat in teilweise ein Umdenken eingesetzt. Wir müssen Bestände als eine Art Stoßdämpfer oder Wellenbrecher begreifen, die dafür sorgen sollen, dass Lieferantenprozesse von den Schwankungen der Kundenprozesse und umgekehrt nichts mitbekommen. Dabei ist gesunder Pragmatismus und Hausverstand gefragt. Dies sollte auch für alle anderen Verschwendungsarten gelten.

Es muss zuerst der Kunde stehen, danach kann man sich um die Effizienz kümmern, denn dem Kunden ist die Unternehmenseffizienz egal – er will einfach das richtige Produkt zur richtigen Zeit erhalten.



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