Allparteilichkeit als Geisteshaltung

Allparteilichkeit als Geisteshaltung

Oder: Wie sich Konflikte durch Mediation nachhaltig lösen lassen.

Nach empirischen Untersuchungen unseres Alumnus Dr. Thomas Wittig gehört zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren des Turnaround-Managements das Stakeholder-Management, also die Kompetenz der Verantwortlichen, die Partikularinteressen der involvierten Stakeholder auszubalancieren und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dies ist alles andere als leicht, denn häufig sind dabei große Gegensätze zu überwinden und so manche Konflikte zu lösen.

am 14. 04. 2023 von Georgiy Michailov


In meinen bisherigen „Thoughts for Leaders“ habe ich mich nur mit Konfliktmanagement (Beitrag #9) und Verhandeln im Grenzbereich (Beitrag #21) befasst. Die dritte Säule einer erfolgreichen Lösungsfindung bei unterschiedlichen Interessen – die Mediation – stand lange nicht auf meiner Agenda. Vor kurzem aber durfte ich im Rahmen eines Zertifikatslehrgangs bei Anita von Hertel, einer der führenden deutschen Mediationsexpertinnen, die Grundlagen in der Praxis erlernen. Zur Reflexion und besseren Verinnerlichung habe ich die dabei gewonnenen Erkenntnisse in diesem Beitrag einmal niedergeschrieben.

Zu Beginn gilt es die klassische Verhandlung von der Mediation abzugrenzen. In einer klassischen Verhandlung sind die Konfliktparteien bzw. Interessensvertreter auch diejenigen, die alle Strukturelemente einer Verhandlungsführung selbst bereitstellen müssen. Somit sind sich diese Parteien in der Verhandlungsführung selbst und einander ausgeliefert. Im Gegensatz dazu kommt in der Mediation eine weitere „dritte“ Partei hinzu, deren Aufgabe es ist, mit ihrer eigenen Professionalität und Verhandlungskompetenz dafür zu sorgen, dass eine bestmögliche Einigung gelingt.

Viele erwähnen in diesem Zusammenhang, dass diese dritte Partei unparteiisch sein sollte. Bei Anita und in ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Professionelle Konfliktlösung – Führen mit Mediationskompetenz" habe ich allerdings gelernt, dass es nicht um Neutralität per se geht (weder für die eine noch für die andere Seite zu sein), sondern um die sogenannte „Allparteilichkeit“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich, dass ein Mediator sowohl für die eine als auch für die andere Seite agiert und somit explizit nicht neutral ist. Oder wie Anita selbst sagt:

„Wer allparteilich verhandelt, ist in der Sache neutral und den Menschen zugewandt.“

Da wir in unserer Funktion als Turnaround-Berater sehr oft zwischen mehreren Parteien wie Finanzierern, Gesellschaftern, Managern oder Mitarbeitern vermitteln müssen, scheint mir diese Allparteilichkeit eine tolle Haltung, denn sie lenkt unseren Fokus auf den maximalen Win-Win. Und wie wir aus einem anderen früheren Beitrag (#24) wissen, gilt der Satz:

„Energie folgt dem Fokus!“

Neben der Allparteilichkeit ist mir noch ein weiterer Aspekt der Mediation aufgefallen. Bei dieser Form der Verhandlung muss die Konfliktlösung von den beteiligten Parteien erarbeitet werden – nicht vom Mediator. Mit anderen Worten: Der Mediator kümmert sich um den Prozess, die Parteien kümmern sich um die Lösungen. Dabei kommt der sogenannte „#IKEAEffekt“ zum Tragen: Wer etwas selbst entwickelt, etwas selbst „erschafft“, der wird es hinterher mehr wertschätzen als etwas Fremdgemachtes. Darin besteht auch der Unterschied zwischen einem Berater und einem Coach: Der Berater entwickelt eine Lösung – der Coach befähigt die Menschen, ihre eigene Lösung zu entwickeln.

Ein weiterer Aspekt der Mediation ist häufig, dass nicht nur vordergründige Symptome gelöst werden, sondern vor allem zum Kern der dahinter liegenden Konflikte vorgedrungen wird.

Bei allen Vorteilen: Es gibt Situationen, in denen Mediation zum Scheitern verurteilt ist, nämlich dann, wenn eine Konfliktpartei einen größeren Nutzen aus der Vernichtung der anderen Partei zieht. In diesem Fall wird sie eine Win-Win-Lösung ablehnen. Die Komplexität eines Falles hat somit nichts mit der Höhe des Streitwerts zu tun, sondern mit der Verstrickung archaischer Muster bei den Beteiligten.

Aus diesem Grund ist die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Lösung einer Verhandlung (oder eines Konflikts) stets die gemeinsame Zukunft. Oder wie es der Managementexperte Dr. Reinhard K. Sprenger formuliert:

„Wir gehen in Konflikte nur in der Erwartung einer gemeinsamen Zukunft.“

Aus diesem Grund ist es auch immer besser, von einem Gegenüber als von einem Feind zu sprechen.

Mittlerweile ist Mediation ein sehr gut erforschtes Feld mit einem großen Fundus an Prinzipien und Werkzeugen.

Anita von Hertel lehrt die ALPHA-Struktur der professionellen Konfliktlösung. Diese basiert auf fünf sehr gut strukturierten Phasen der Mediation:

Phase 1 – Auftragsklärung

Phase 2 – Liste der Themen

Phase 3 – Positionen und Interessen

Phase 4 – Heureka

Phase 5 – Abschlussvereinbarung

Diese Vorgehensweise lässt sich sehr gut rückwärts vom Ziel der erfolgreichen Verhandlungslösung her strukturieren: Die Parteien wollen ein Agreement erreichen. Dazu brauchen sie Ideen oder auch – um es mit dem Schlachtruf der Erfinder zu sagen – einen Heureka-Moment. Um Ideen kreativ zu entwickeln, bedarf es Klarheit über die wahren Ziele der Verhandlung, sprich über die wahren Interessen der verschiedenen Seiten, die sich möglicherweise hinter den zunächst formulierten Positionen verbergen. Um diese verborgenen Interessen zu beleuchten, hilft am besten das emphatische Zuhören und Sammeln von Emotionen, Standpunkten oder Sachargumenten, eben eine Liste der Themen, um die es den Beteiligten geht. Die wichtige Aufgabe des Mediators besteht bei all dem darin, einen Rahmen zu schaffen, der kreative Reibung ermöglicht, die nicht ins Destruktive abgleitet. Dies geschieht in der Auftragsklärung, in deren Verlauf der Mediator die Ziele der Parteien und ihr klares Commitment für den Prozess einholt.

Die erste Phase ist entscheidend für den erfolgreichen Start der Mediation. Sie beginnt mit der Klärung des gemeinsamen Ziels. Konkret besteht die Aufgabe des Mediators darin, den Parteien gut zuzuhören und Oberbegriffe zu formulieren, die die individuellen Ziele der Parteien zusammenfassen.

Sagt zum Beispiel eine Partei, dass sie für den Fuhrpark nur BMWs kaufen möchte, während die andere Partei auf Opels besteht, ist es die Aufgabe des Mediators, Hypothesen zu formulieren, die zum Beispiel wie folgt lauten könnten: „Unser gemeinsames Ziel ist es zu klären, welche Marken wir im Fuhrpark haben wollen und welche Aspekte uns wichtig sind: Nachhaltigkeit, Kosten, Image, Fahrfreude ...“ Oder: „Unser gemeinsames Ziel ist es zu klären, welchen Stellenwert unser Fuhrpark für unser Team haben soll.“ Das gemeinsame Ja zum Oberbegriff schafft den Rahmen für kreative Reibung und ermöglicht die Definition des Verhandlungsprozesses.

Ein guter Tipp von Anita war in diesem Zusammenhang, in kurzen Sätzen zu sprechen. Die meisten von uns neigen dazu, viel zu verschachtelt zu formulieren. Daher sollten wir besser, so Anitas Rat,

„die Gurke in kleine Scheiben schneiden“.

Die zweite Phase dient dazu, die individuellen Interessen zu klären. Juristisches, Emotionales, Fachliches – alles gehört auf den Tisch. Hier ist empathisches Zuhören gefragt, das sich besonders in der Fähigkeit zeigt, Schlüsselwörter herauszuhören und sie so wiederzugeben, dass alle Beteiligten verstehen, was gemeint ist!

Diese Phase endet, wenn die Parteien alles gesagt haben, was sie sagen wollten, und diese Aspekte adäquat wiedergegeben wurden.

Die dritte Phase hat für mich sehr viel Überraschendes zutage gefördert, nämlich die persönlichen Werte oder verborgenen Interessen hinter den offensichtlichen Positionen herauszuarbeiten. Hierin liegt der Kern jeder Mediation. Die wichtigste Frage zur Klärung dieser Interessen lautet Anita zufolge:

„Wofür ist das für Sie wichtig?“

Diese Frage nach der eigentlichen Motivation kann sehr unterschiedliche, teils auch überraschende Gründe offenlegen: Willst Du der Welt Deinen Erfolg zeigen? Willst Du finanziell abgesichert sein? Willst Du ein guter Familienvater sein? Brechen bei den Beteiligten in der Folge archaische Muster und Emotionen hervor, kann die folgende Frage Wunder wirken:

„Wie kann uns dieser Aspekt helfen, das gemeinsam vereinbarte Ziel zu erreichen?“

Haben alle Verhandlungsparteien ihre Werte und Interessen klar kommuniziert, kann der nächste Schritt gewagt werden.

Die vierte Phase der Mediation ist der kreative Part des Prozesses: Heureka – oder, anders ausgedrückt, die Entwicklung von Ideen mit dem Ziel, den gemeinsamen Kuchen zu vergrößern und eine Win-Win-Situation zu schaffen, wie sie vielen aus dem Harvard-Verhandlungskonzept bekannt sein dürfte.

Eine beliebte Geschichte, die das ursprünglich von den US-Wissenschaftlern Roger Fisher und William Ury erforschte Prinzip sehr schön illustriert, handelt von Orangen: Streiten sich zwei Personen um eine begrenzte Ressource, wie zum Beispiel ein paar Orangen, gelangen sie, wenn sie die jeweiligen Absichten hinter dem Ziel „Ich brauche diese Orangen“ nicht kennen, kaum zu einer Win-Win-Lösung. Können sie klären, dass die eine Person den frisch gepressten Saft zur Verbesserung ihres Vitaminhaushaltes benötigt, während die andere Person nur die Schalen zum Backen braucht, lässt sich Mehrwert für beide Parteien schaffen.

In der fünften Phase geht es darum, die erarbeiteten Ideen und Lösungen in eine klare Abschlussvereinbarung zu gießen. Dabei geht es weniger um ein Festhalten aller Details als vielmehr um das sehr präzise Fixieren des gemeinsam gefundenen Verständnisses der Interessen.

Zum Abschluss noch eine letzte Erkenntnis, die ich im Lauf des Lehrgangs gewonnen habe, bei dem ich mich mit diesem so spannenden Thema der Mediation auseinandergesetzt habe: Zwar hilft das Lesen von Büchern, in diesen Fertigkeiten besser zu werden – aber ohne Übungen unter professioneller Anleitung ist die Aussicht, wirklich gut zu werden, leider begrenzt. Doch dazu vielleicht ein anderes Mal mehr… :)



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