Work-Life-Bullshit
Der Begriff der Work-Life-Balance geht davon aus, dass die Berufsarbeit etwas anderes ist als das Leben und dass beide Bereiche in Balance zu bringen sind. Aha: Leben findet also erst durch die Abwesenheit statt. Nach dieser Logik wäre man ja während der Arbeit tot. Klar weiß ich, dass das nicht so gemeint ist. Kommt aber so an. Jedenfalls bei mir. Und deshalb kann ich mit diesem Begriff auch nichts anfangen.
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Versuchen wir es deshalb einmal mit dem Begriffspärchen »Arbeit und Freizeit«. Das kommt zwar nicht ganz so stylish daher wie die Work-Life-Balance, kann aber bei der Erklärung helfen. Denn es unterstellt, dass man nur dann frei - also selbstbestimmt - sein kann, wenn man nicht seiner Erwerbsarbeit nachgeht. Sollten Sie dieser Aussage zustimmen, dann will ich gerne der Spielverderber sein. Denn in Ihrer ach so freien, selbstbestimmten Zeit müssen Sie die Dachrinne reinigen, müssen Sie den Müll herausbringen und müssen Sie Ihre Steuererklärung machen. Muss, muss, muss! Und das nennen Sie Freizeit, also selbstbestimmte Zeit? Dann möchte ich mit Ihnen aber nicht tauschen. Na gut, werden Sie sagen, man hat ja schließlich seine Verpflichtungen. Ja, das ist richtig. Bitte bleiben Sie dran - wir kommen der Sache näher.
Ich bin nämlich für eine andere Einteilung: für die Unterscheidung zwischen Arbeit und Privatem und zwischen selbstbestimmt und fremdbestimmt. Dann lassen Sie uns die Freizeit umbenennen in Privatzeit und diese weiter unterteilen in einen selbstbestimmten und einen fremdbestimmten Teil. Diese Unterteilung ist natürlich auch für Ihre Arbeit vorzunehmen. Denn da gibt es ja nicht nur Fremdbestimmtes. Hoffe ich jedenfalls für Sie.
Wenn vor Ihren Augen nun eine Matrix aus vier Feldern entsteht - Arbeitszeit und Privatzeit vs. selbstbestimmt und fremdbestimmt - bekommt die Sache Kontur.
Und Hoffnung. Denn ist bei Ihnen wirklich alles, was an Ihrem Arbeitsplatz passiert, fremdbestimmt? Oder zumindest das meiste? Häufig muss diese Frage leider mit »ja« beantwortet werden. Denn schließlich ist man ja weisungsabhängig beschäftigt. »Die Unterlagen bis 11:00 Uhr auf meinem Tisch - und keine Widerrede.«
Wenn Sie das so erleben, dann haben Sie den falschen Chef. Wenn Ihre Mitarbeiter das so erleben, dann sind Sie der falsche Chef. Chefinnen dürfen sich hier durchaus angesprochen fühlen.
Eine Organisation, in der die einen das umsetzen, was die anderen vorgeben, ist keine gute Organisation. Denn sie gibt den Mitarbeitern keinen Freiraum, um Dinge zu entwickeln und zu verbessern. Nur eine Organisation, in der diese Freiräume bestehen, hat eine gute Zukunft. Sehen Sie den Glanz in den Augen der Mitarbeiter, die eigenständig eine Verbesserung an ihren Arbeitsplätzen umgesetzt haben, und Sie wissen, was ich meine. Wenn man einmal verstanden hat, wie viele Möglichkeiten sich hier bieten, dann wird man nie mehr behaupten, Arbeit sei das Gegenteil von Selbstbestimmtheit.
Das Schlimme: die Jünger der Work-Life-Balance bedienen - selbstverständlich nur unbewusst - die Vorstellung, dass Arbeit etwas grundsätzlich Schädliches sei, das es einzudämmen gilt. Statt sich also um die Bedingungen bei der Arbeit zu kümmern, fördern sie die Flucht ins Private. Sehr zum Verdruss von Arbeitgebern, die sich offenbar nur noch Menschen gegenübersehen, deren sehnlichster Wunsch zu sein scheint, möglichst wenig zu arbeiten.
Es geht also nicht darum, die Arbeit als notwendiges Übel zu begreifen, sondern es geht darum, in der Arbeit möglichst viele Freiheitsgrade zu bekommen. Es ist schon klar: Erwerbsarbeit sollte nur ein Teil des Lebens sein — aber bei der Formel: »Arbeit immer böse — Privat immer gut« gehe ich nicht mit.
Statt also Arbeit gegenüber dem Privaten auszuspielen, sollten wir Fremdbestimmtheit eliminieren und Selbstbestimmtheit fördern – im Beruflichen und im Privaten.
Schaffen Sie eine Organisation, in der die Mitarbeiter alle Freiheiten besitzen, die Dinge zum Besseren zu führen. Sie ersparen sich somit die ganzen trendigen Diskussionen um Work und Life. Arbeit dringt immer mehr in den privaten Raum ein und auch in die Zeit, die eigentlich für Privates reserviert ist. Das halten wir mittlerweile für selbstverständlich und richten unser Home Office liebevoll ein. Warum lassen wir es im Gegenzug nicht zu, dass das Private auch im beruflichen Umfeld stattfindet? Wie die Urlaubsbuchung, durchgeführt am Arbeitsplatz im Betrieb. Ich weiß, dass dies bereits stattfindet – aber mit schlechtem Gewissen. Und dies muss sich ändern.
Möglicherweise fällt bei der Beschäftigung mit Fremdbestimmtheit und Selbstbestimmtheit auch mal ein kritischer Blick auf Ihre eigene Privatzeit. Vielleicht mit dem Ergebnis, dass das doch alles nicht so viel Freiheit ist, wie Sie bisher gedacht haben. Was für eine Chance, dies zu ändern: Aber das ist Ihre Privatsache, da mische ich mich nicht ein.
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#JanineFragtNach bei Marc Wagner, Mitglied des Management Boards der Detecon International GmbH und New Work Experte
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