Industrie 4.0 – Fünf Irrtürmer und ein Bigger Picture!
Die Autoren (Prof. Dr. Andreas Syska, Ralf Volkmer, Dr. Winfried Felser) dieses Beitrags trafen sich eigentlich in Köln, um unterschiedliche Perspektiven und Bewertungen zu Industrie 4.0 auszutauschen und mögliche Konflikte in diesem Zusammenhang zu überwinden.
Am Ende wurde klar: Sowohl die Bewertungen als auch die Perspektiven waren weitgehend identisch.
Wenn man den Dialog sucht und die fünf fundamentalen Irrtürmer zu Industrie 4.0 gemeinsam klärt, entsteht eine Annäherung von unterschiedlichen Startpunkten.
Am Ende kann das Bigger Picture einer neuen Gesellschaft („4.0“) als die eigentliche Herausforderung erkannt und auch die allgemeine Diskussion zu Industrie 4.0 auf ein neues Niveau gehoben werden. Das war mehr als man von zwei Stunden Austausch erwarten konnte.
Irrtum 1 (Verständnis) – Industrie 4.0 wird einheitlich verstanden!
Zu Beginn der Diskussion wurde sofort klar: Wenn der eine Diskutant eine „Industrie 4.0“ zurecht fundamental kritisiert und der andere „Industrie 4.0“ zurecht in Teilen verteidigt, liegt es daran, dass es scheinbar so viele Version von Industrie 4.0-Verständnissen gibt, wie es Köpfe gibt, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Eines war klar: Eine technik- und fabrikfixierte Verengung unserer Zukunft ist abzulehnen, es gibt allerdings schon Alternativen, die sich in die richtige Richtung bewegen.
Irrtum 2 (Werkstor) – Industrie 4.0 kann am Werktor enden!
Denn das war direkt Common Sense: Industrie 4.0 darf nicht am Werktor enden.
Wer nur über smarte Fabriken spricht und den Kunden, seine Bedürfnisse und die neuen Marktlogiken („Plattform-Ökonomie“) aus den Augen verliert, verliert am Schluss das Spiel. Insofern kann auch das T-Modell der Kooperation von Plattform Industrie 4.0 und IIC tragisch missverstanden werden, wo sich scheinbar die deutsche Initiative auf eine tiefe Durchdringung der Fabrikthematik beschränkt, während das IIC das Bigger Picture – das Internet of Things – in der Breite beleuchtet und damit auch eher die potenziell letzte Meile hin zum Kunden in der Tiefe durchdringt. Nur vom Kunden ausgedacht, kann sich Innovation am Ende legitimieren.
Irrtum 3 (Technik) – Industrie 4.0 ist eine technische Revolution!
Aber auch in einer zweiten Dimension verkürzt sich oft die Perspektive. In allen Medien und schon in der Ur-DNA des Industrie 4.0-Projekts lief die Argumentation einer neuen Zukunftsperspektive über die Evolution von industriellen Technologien (Mechanik, …, Cyper Physical Systems). Die Treppe von Professor Wahlster und dem DFKI ist die wohl meist zitierte Ikone der Industrie 4.0-Diskussion. Diese technik-zentrierte Perspektive vergisst aber den Menschen und die Entwicklungen neuer Kollaborationsformen wie sie Ford oder auch die Lean-Bewegung realisierten und kann leicht die Notwendigkeit einer neuen Wertschöpfung aus den Augen verlieren.
Irrtum 4 (Kurzsprung) – Industrie 4.0 braucht minimale Anpassung!
Nun gibt es zu Irrtum 2 und 3 schon neue Heilsbotschaften. Eine Schule wie die Aachener Schule an der RWTH (WZL) definiert Industrie 4.0 über die neue kollaborativere Wertschöpfung in der Netzwerk-Ökonomie, wo Technik der Enabler, aber eine bessere Produktion das eigentliche Ziel ist. Das Smart-Service-Welt-Projekt – wie das Industrie 4.0-Projekt auch aus dem Kontext der acatech – stellt richtigerweise den Service für den Kunden in den Mittelpunkt der Diskussion. Hier darf aber nicht zu kurz gesprungen werden. Ein bisschen Kollaboration ohne echte Mitarbeiterperspektive wie auch eine technologische Reduktion der Kundenthematik auf Apps für Fernwartung oder Plattformen zur Unterstützung der Smart Services kann zu kurz springen. Es birgt die Gefahr einer anbieterzentrierten Forward- / Push-Strategie.
Am Ende muss (s. blauer Halbkreis-Pfeil) eher in einer Pull-Strategie vom Kunden und einer kunden- und mitarbeiterzentrierten Wertschöpfung ausgegangen werden, um Zuckerguss auf alten Denk- und Lösungsmustern zu vermeiden. Nicht das Auto muss weiter-, sondern Mobilität und das Ecosystem für eine solche Mobilität vollkommen neugedacht werden. In Transformations-Projekten zeigte sich dabei, wie verschieden alleine schon die Begriffswelten und Denkmuster von Unternehmen und Kunden sein können, was den kundenzentrierten Wandel enorm erschwert.
Hier wird es in Zukunft entscheidend sein, in Innovationsprozessen und -strukturen diverse Perspektiven, insbesondere Kundenperspektiven zu integrieren, um so durch ein „Denken 4.0“ den eigenen Einstellungsfallen zu entfliehen, wo man versucht, alte linear fortgeschriebene Lösungen für vollkommen neue Herausforderungen zu nutzen, anstatt bisherige Muster zu überwinden.
Irrtum 5 (Schöne neue Welt) – Alles gut, wenn Kunde im Fokus!
Wer aber nun glaubte, dass die Diskussion mit der Forderung nach der totalen Wert- und Kundenzentrierung zu Ende war, der irrt. Eigentlich begann hier erst der spannende Teil. Professor Syska hatte schon frühzeitig eine gesellschaftliche Perspektive gefordert, die zurecht fragt, was wir als Gesellschaft wirklich an Werten, Arbeit und Technologie wollen. Wer die fundamentalen Fragen nicht stellt, wird vielleicht lächelnd und durch scheinbare Determinismen am Ende in einer „Schönen neuen Welt“ der Dualisierung und Fremdbestimmung landen.
Beispiel Quantified Self-Bewegung: So hilfreich, die dauernde Selbst-Überwachung für das eigene Gesundheitsmanagement sein kann, so einfach ist der Dreischritt über attraktive Versicherungsangebote hin zur totalen Fremdbestimmung. Am Ende droht im schlimmsten Fall nicht nur eine dualisierte Gesellschaft aufgrund unterschiedlicher Einkommen, sondern auch aufgrund unterschiedlicher Autonomien gegenüber der großen Maschine. Analoges gilt für die Produktion: Fürsorgliche Überwachung der Mitarbeiter bietet Potenzial in Richtung einer Schreckensvision ala „Modern Times“. Die alten Dystopien – sie werden uns im schlimmsten Fall nicht aufgezwungen, vielmehr werden wir sie lächelnd akzeptieren.
Was ist die Alternative? Die grundsätzliche Hinterfragung aller scheinbaren Heilsbotschaften und das bewusste Gestalten einer human-, mitarbeiter- und kunden- und wertzentrierten Gesellschaft, in der wir alle leben wollen. Wenn das die Botschaft des ersten Kölner Gesprächs war und in eine Transformation in diese Richtung mündet, ist das mehr als man vom Streitgespräch zu Industrie 4.0 normalerweise erwarten durfte. Jetzt gilt es das Thema kollaborativ weiterzutragen und an ähnliche Bestrebungen (im Kontext Arbeiten 4.0, Industrie 4.0 Human) anzudocken, um eine breite Mobilisierung zu ermöglichen.
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