Die Weihnachtsansprache des Dr. Nemo - Folge 81
Dr. Nemo entwirft heute seine Weihnachtsansprache. Solche Ansprachen erfreuen sich großer Beliebtheit, weil die Beliebigkeit der Aussagen immer irgendetwas in uns trifft und deshalb so manchen bewegt. Endlich mal Emotionen, jedenfalls zu Weihnachten ...
Zugegen bei der Vorbereitung der Ansprache von Dr. Nemo, dem CEO des größten Unternehmens der Welt WMIA Incorporated, sind der Interviewer, Elvira, die Assistentin von Dr. Nemo – diesmal in rotem Kleid und einem hinreißenden Kragen vom feinen Hermelin – und, na ja, wir werden sehen, wer da noch auftaucht …
Nemo liest schon mal seinen Entwurf vor:
„Liebe Freunde von WMIA Incorporated,
wieder ist ein Jahr vergangen und ich kann erfreut feststellen, dass nichts Wesentliches passiert ist. Uns geht es so gut wie nie zuvor.
Wir haben alles im Griff. Dafür danke ich unseren Anwälten und befreundeten Politikern und natürlich unseren Mitarbeitern.
Über alledem steht der Stern von WMIA Incorporated wie der Stern von Bethlehem, sein Glanz lässt alles verblassen.“
Elvira: „Findest Du das mit dem Stern von Bethlehem und die Verbindung zu WMIA Incorporated nicht ein wenig blasphemisch?“
Nemo: „Ist doch so, oder? Wir haben dem Stern von Bethlehem wieder Gestalt gegeben, eine Bedeutung, anfassbar und sein Neonlicht führt die Menschen in unsere Outlets, unsere Algorithmen erklären auch dem einfachsten Gemüt, was seine eigentlichen Bedürfnisse sind. Jetzt ist der Stern doch zu etwas gut!“
Elvira: „Du übertreibst!“
Nemo: „Nein, ich bin pragmatisch. Die beste Errungenschaft unseres Unternehmens ist übrigens in dieser Saison der „Klick“ in unserem Online-Geschäft in Form eines Weihnachtsmannes.“
Elvira: „Welcher „Klick“?“
Nemo: „Der Klick auf den Weihnachtsmann, mit dem man kaufen kann, Wünsche realisiert, die einem innerhalb eines Tages an die Tür gebracht werden.“
Elvira: „Du meinst also, Weihnachten könne man kaufen?“
Nemo: „Ja, jedenfalls spätestens seit es WMIA Incorporated gibt. Das ist das historische Ende des Glaubens an den alten, analogen Weihnachtsmann.“
Interviewer: „Mmmh, Weihnachten vier Punkt Null!“
In dem Moment erscheint Fortunata.
Fortunata: „Hi Nemo!“
Nemo: „Du schon wieder …“
Nun, solche Begrüßungen sind nach 30 Jahren Ehe nachvollziehbar, insbesondere dann, wenn die Gattin aus einer anderen Welt des Denkens stammt … aber das ist ja vielleicht ganz gut so …
Fortunata: „Was heckt Ihr denn da aus?“
Elvira: „Wir entwerfen die Weihnachtsansprache. Sie wird gleich aufgezeichnet.“
Fortunata: „Nehmt doch die vom letzten Jahr, es wird doch immer sowieso das Gleiche gesagt.“
Nemo: „Nein, hör mal!“ und er fährt mit seiner Ansprache fort: „Unsere Gedanken sind bei dem kleinen Kind, das bedauerlicherweise in einem Stall geboren wurde. Hätte es seinerzeit WMIA Incorporated gegeben, wäre das nicht passiert. Heute bietet WMIA Incorporated allen Neugeborenen moderne Zimmer in privaten Krankenhäusern …“
Fortunata unterbricht ihn: „Maria und Joseph waren doch arm …“
Nemo: „Ach ja. Sollte ich erwähnen, dass die Versicherungsgruppe von WMIA Incorporated hierfür günstige Darlehen und eine Ausbildungsversicherung für später anbietet?“
Elvira: „Lieber nicht.“
Nemo: „Na gut! Also weiter: „Was wäre Weihnachten ohne Weihnachtsbaum! WMIA Incorporated geht mit der Zeit. Unsere Weihnachtsbäume sind rein biologisch und artgerecht gefällt. Zwölftausend Biber aus Käfighaltung haben jeden einzelnen Stamm abgenagt.“
Elvira: „Na ja, sag doch mal was Emotionales zu Weihnachten, bislang war das nur Werbung.“
Nemo: „Warte, kommt gleich.“ Er blättert in seinem Skript: „Hier ist es. Gerade in dieser weihnachtlichen Zeit, ist es schön, jemanden um sich zu haben, den man liebt. Finden Sie einen gut situierten Partner mit WMIA Incorporated und vergessen Sie den arbeitslosen Zimmermann an Ihrer Seite …“
Fortunata: „Nemo, mein Papa war arbeitslos …“
Nemo: „Na gut, dann lass ich das weg.“
Es pocht an der hohen Flügeltür zum Vorstandsbüro.
Elvira schmunzelt: „Kommt jetzt Knecht Ruprecht?“
Nemo: „Kann ich mir nicht vorstellen … hier kommt keiner rein. Wir sind elektronisch gesichert … und es gibt fünf Vorzimmer.“
Der Clown öffnet die Tür.
Nemo: „Wie kommst Du hierein?“
Clown: „Ich habe Deinen Wächtern etwa geschenkt.“
Nemo: „Das ist Korruption. Ein Fall für unsere Compliance-Abteilung.“
Elvira: „Was hast Du ihnen denn geschenkt?
Clown: „Ein Lächeln.“
Nemo muss wieder zum Termin.
Die Weihnachtsansprache von Dr. Nemo wurde dann doch nicht gesendet. Man nahm die vom vorletzten Jahr.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl fragt der Interviewer: „Elvira, was meintest Du damit, dass Nemo „mal was Emotionales“ sagen sollte?“
Elvira: „Nemo weiß das ganz genau. Er traut sich nur nicht, aus seinem Trott herauszukommen.“
Was Elvira damit meinte und wie es mit Dr. Nemo weitergeht, erfahren wir auf jeden Fall an einem der kommenden Dienstage …
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