Wertschöpfung lohnt - Vorteile und Notwendigkeit lokaler Wertschöpfungsketten

Wertschöpfung lohnt - Vorteile und Notwendigkeit lokaler Wertschöpfungsketten

Analyse der Industrieposition in Baden-Württemberg - exemplarisch auch für das Zukunftsfeld Elektromobilität

#leanmagazin
30. November 2021 um 04:30 Uhr in LeanMagazin von Steffen Kinkel, Bernhard Rieder, Djerdj Horvat, Angela Jäger


Executive Summary
 
Das Wichtigste zuerst: Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass sich der Auf- und Ausbau eigener Wertschöpfung bei Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes aus wirtschaftlichem Kalkül lohnt, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
 
EIGENE WERTSCHÖPFUNG VERSCHAFFT GEWINN- UND PRODUKTIVITÄTSPOTENZIALE
 
Zum einen zeigt sich ein signifikant positiver Einfluss der Höhe der eigenen Wertschöpfungstiefe auf die Gewinnsituation eines Unternehmens. Dies belegt ein lineares Regressionsmodell auf Basis der Kostenstrukturdaten des Statistischen Bundesamtes. Eine Erhöhung der Wertschöpfungstiefe eines Unternehmens um 1 Prozentpunkt geht demnach mit einer Erhöhung des Gewinns um 0,2 Prozentpunkte einher. Die Ergebnisse eines logistischen Regressionsmodells auf Basis einer Unternehmensbefragung bei 1594 Betrieben des Verarbeitenden Gewerbes in
Deutschland unterstützen diesen Befund. Demnach ist die Wertschöpfungstiefe der mit Abstand stärkste Erklärungsfaktor für die Wahrscheinlichkeit eines Unternehmens, eine Umsatzrendite von mehr als 2 Prozent zu erwirtschaften.

Zum anderen beeinflusst die Wertschöpfungstiefe stark positiv die Produktivität eines Unternehmens. Sie ist sowohl für die Gesamtfaktorproduktivität als auch für die Arbeitsproduktivität eines Unternehmens der jeweils stärkste Erklärungsfaktor, wie spezifische lineare Regressionsmodelle Basis der breitenempirischen Unternehmensbefragung zeigen.

GLOBAL SOURCING ZEIGT KEINE POSITIVEN WIRTSCHAFTLICHKEITSEFFEKTE
 
Dagegen liefert der Auslandsbezug von Vorleistungen keinen signifikanten Erklärungsbeitrag für die Gewinnsituation oder Produktivität eines Unternehmens. Die Nutzung globaler Zulieferketten (global supply chains) scheint entgegen vielfach geäußerter Ansichten nicht entsprechend positiv mit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Unternehmens zusammenzuhängen. Die qualitativen Ergebnisse auf Basis von 16 Experteninterviews legen nahe, dass die potentiellen Kostenreduktionseffekte der Zusammenarbeit mit ausländischen Zulieferern durch größeren Abstimmungsaufwand und höhere Koordinationsaufwendungen zur Sicherstellung der flexiblen Reaktions- und
Lieferfähigkeit in der Lieferkette kompensiert werden. Auf der Absatzseite zeigt sich jedoch ein positiver Effekt der Exportquote auf die Gewinnsituation eines Unternehmens. Zudem ist sie nach der Wertschöpfungstiefe der zweitstärkste Erklärungsfaktor für die Produktivität von Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes.
 
Ein weiterer, beachtenswerter Befund der Studie ist, dass die Arbeitsproduktivität negativ mit dem Anteil der in Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes tätigen, an- oder ungelernten Arbeitskräfte zusammenhängt. Dies deutet auf die Schwierigkeiten hin, am Produktionsstandort Deutschland einfache manuelle Tätigkeiten mit der gleichen Produktivität zu betreiben wie komplexere und wissensintensivere Produktionsprozesse, die Facharbeit und höhere Qualifikationen erfordern. Erfolgreiche Unternehmen, die eine hohe eigene Wertschöpfungstiefe realisieren, setzen folgerichtig verstärkt Facharbeiter, Techniker und Meister in ihren Wertschöpfungsprozessen ein und weniger an- oder ungelernte Kräfte.

RÜCKBESINNUNG AUF EIGENE WERTSCHÖPFUNGSTIEFE, WENIGER OUTSOURCING
 
Die Wertschöpfungstiefe, gemessen als Anteil der Bruttowertschöpfung am Produktionswert, liegt nach Angaben der amtlichen Statistik im deutschen Verarbeitenden Gewerbe im Mittel bei etwa einem Drittel. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich ein Abschmelzen der mittleren Wertschöpfungstiefe von etwa 34 Prozent im Jahr 2000 auf etwa 30 Prozent im Jahr 2008. Danach hat sich die Wertschöpfungstiefe des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland stabilisiert und sogar moderat positiv weiterentwickelt, bis hin zu beinahe 33 Prozent im Jahr 2014. Dies könnte ein Beleg dafür sein, dass die Unternehmen ihre eigene Produktionskompetenz wieder verstärkt als wertschaffende Fähigkeit begreifen, während bis zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008/2009 insbesondere Dienstleistungsaktivitäten ein höherer Wertbeitrag zugesprochen wurde.
 
ZUNEHMENDER VORLEISTUNGSIMPORT, ABER KEIN DOMINIERENDES GLOBAL SOURCING
 
Der Importanteil (Auslandsbezugsanteil) der Vorleistungen im Verarbeitenden Gewerbe Deutschlands betrug im Jahr 2010 (letzte verfügbare Daten) im Durchschnitt 29 Prozent aller Vorleistungen. Gemessen als Anteil am Produktionswert sind dies im Durchschnitt 21 Prozent. Im Jahr 2000 betrug der entsprechende Wert noch 16 Prozent, was einer Steigerung um etwa ein Drittel innerhalb von zehn Jahren entspricht. Hier ist also durchaus eine gewisse Dynamik zu beobachten, wenngleich die Steigerungsraten vor dem Hintergrund der intensiven Diskussion um die zunehmende Globalisierung der Wertschöpfungs- und Zuliefererketten eher moderat erscheinen. Von einem dynamischen Trend eines zunehmenden „global sourcing“, das über viele Bereiche des Verarbeitenden Gewerbes hinweg breit Platz greift, kann den Ergebnissen dieser Studie nach eher nicht ausgegangen werden.

BADEN-WÜRTTEMBERGISCHE BETRIEBE SETZEN AUF EINE HOHE EIGENE WERTSCHÖPFUNGSTIEFE
 
Die baden-württembergischen Betriebe des Verarbeitenden Gewerbes sind im Lichte dieser Studienergebnisse gut aufgestellt. Sie setzen auf eine im Vergleich zu Betrieben aus anderen Bundesländern überdurchschnittlich hohe Wertschöpfungstiefe. Die mittlere Wertschöpfungstiefe des Verarbeitenden Gewerbes in Baden-Württemberg lag im
Jahr 2013 mit fast 39 Prozent signifikant über dem Durchschnitt des gesamten deutschen Verarbeitenden Gewerbes. Demnach scheinen die Betriebe in Baden-Württemberg strategisch auf einen höheren Anteil von eigenen Kernkompetenzen an ihrer Gesamtleistung ausgerichtet zu sein.

VIER WERTSCHÖPFUNGSTYPEN

Die Betriebe des deutschen Verarbeitenden Gewerbes lassen sich hinsichtlich ihrer Wertschöpfungs- und Vorleistungsstrategien in vier Wertschöpfungstypen einordnen:

Der Typ 1, der „local sourcer“, umfasst jene Betriebe, die eine unterdurchschnittliche Importquote von Vorleistungen und unterdurchschnittliche Wertschöpfungstiefe aufwiesen. Der Typ 2, der „global sourcer", kombiniert eine überdurchschnittliche Importquote von Vorleistungen mit einer unterdurchschnittlichen Wertschöpfungstiefe. Der Typ 3, der „local maker“, umfasst jene Betriebe, die eine unterdurchschnittliche Importquote von Vorleistungen gepaart mit einer überdurchschnittlichen Wertschöpfungstiefe aufweisen. Betriebe vom Typ 4, „global maker“, weisen schließlich bei beiden Faktoren eine überdurchschnittliche Ausprägung auf. Baden-württembergische Betriebe positionieren sich überdurchschnittlich häufig als „local maker".
 
Wie sich zeigt, sind die beiden Wertschöpfungstypen mit hoher Fertigungstiefe, der „local maker" und der „global maker", in der Lage, eine überdurchschnittliche Gesamtfaktorproduktivität zu erwirtschaften. Zudem erzielen sie signifikant häufiger Umsatzrenditen von mehr als 2 Prozent. Betriebe des Typs 3 „local maker“ beschäftigen überdurchschnittlich viele Techniker und Meister sowie Mitarbeiter in der Fertigung und Montage. Dieser Fokus auf qualifizierte Facharbeit scheint notwendig, um bei einer Wertschöpfungsstrategie, die vorrangig auf hohe Fertigungstiefe und geschlossene Wertschöpfungsketten setzt, nachhaltige Spezialisierungsvorteile generieren zu
können. Dagegen beschäftigen „global sourcer" und „global maker" überdurchschnittlich viele an- oder ungelernte Arbeitskräfte.

INDIVIDUELLE PRODUKTION UND HOHE VARIANZ SEHR GUT IN BADEN-WÜRTTEMBERG MÖGLICH
 
Aus den 16 geführten Experteninterviews ergeben sich vertiefte Einsichten in die lokalen und globalen Wertschöpfungsstrategien der befragten Unternehmen. Die Vorteile des Produktionsstandortes Baden-Württemberg bzw. Deutschland kommen demnach insbesondere bei der Produktion von Produkten hoher Komplexität in vielen Varianten bzw. mit einem hohen Individualisierungsgrad zum Tragen, die weiterhin sehr effizient und mit hoher eigener Wertschöpfung an inländischen Standorten durchgeführt werden kann. Als Faustregel gilt: Je höher die Individualität und Variabilität der Leistungserstellung ist desto höher ist auch die wirtschaftlich sinnvolle Wertschöpfungstiefe. Einige Unternehmen betreiben daher in Bereichen mit hohen Individualisierungs- und Varianzanforderungen einen strategischen Ausbau der Wertschöpfungstiefe, teilweise gekoppelt mit Insourcing-Aktivitäten.

KEIN STARKER TREND ZUM „LOW-COST-SOURCING"
 
Demgegenüber erfolgen Outsourcing und Fremdfertigung bei den befragten Unternehmen hauptsächlich zum Ausgleich der Diskrepanz zwischen der Volatilität der Nachtrage und der internen Fixkostenbindung für die Bereitstellung der Kapazitäten für die Spitzenbedarfe. Hinsichtlich der priorisierten Bezugsregionen lässt sich den
befragten Experten nach aber kein stärker Trend zum „Low-Cost-Sourcing” feststellen. Die Strategie des „local sourcing“ ist weiterhin fest verankert, die Unternehmen nennen vielfach Deutschland oder Gesamteuropa als wichtigste Bezugsregion von Vorleistungen. Asien bzw. spezifischer China, folgt meist an zweiter oder dritter Stelle. Niedrigere Preissegmente werden dabei tendenziell eher aus Fernost bezogen, komplexere Komponenten und höhere Preissegmente tendenziell eher aus Europa. Dies liegt hauptsächlich darin begründet, dass lokale bzw. europäische Lieferanten bei komplexen Komponenten in hoher Varianz noch immer eine spürbar höhere Flexibilität bieten als außereuropäische Bezugsquellen.

SOURCING IN CHINA BEI HOHER VARIANZ NUR EINGESCHRÄNKT MACHBAR
 
Die Experten bemerken zudem, dass Sourcing in China mit kleinen Losgrößen und hoher Varianz meist nur eingeschränkt machbar ist. Bei kleineren Stückzahlen und kundenspezifischen Anforderungen sind die dortigen Lieferanten nicht so flexibel wie gewünscht; der Bezug von Unikaten aus Fernost ist prinzipiell problematisch. Die
Entfernung nach Asien macht nachträgliche Änderungen an Produkten zusätzlich teuer und aufwendig. Hinzu kommen Preisanstiege bei chinesischen Lieferanten, insbesondere im östlichen Industrie- und Speckgürtel des Landes, die zwischenzeitlich durchaus spürbar sind. Auch der Lieferantenaufbau in China bzw. Fernost stellt sich aufwendiger dar als im lokalen oder europäischen Umfeld. Lieferantenprobleme in Fernost werden zumeist später erkannt und deren Behebung dauert länger. Probleme tauchen insbesondere auf, wenn der Support beim Aufbau und der Entwicklung neuer Kompetenzen und Technologien und bei der Aufrechterhaltung einer standardisierten Qualitätsproduktion zu gering Ist. In diesem Kontext wird auch die fehlende Facharbeiterausbildung ın China als lokales Hemmnis einer eigenständigen Problemlösungsfähigkeit beklagt. Jedoch werden China und Asien weiterhin ein wichtiger Zukunftsmarkt für den Vorleistungsbezug bleiben, allein schon wegen ihrer weiterhin herausragenden Bedeutung als Absatzmarkt.

Autoren:
Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft
ILIN Institut für Lernen und Innovation in Netzwerken
Steffen Kinkel, Bernhard Rieder

Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Djerdj Horvat, Angela Jäger

Mit freundlicher Unterstützung durch: infpro Institut für Produktionserhaltung e.V.



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