Lean und Europa: "Das Lean-Konzept widerspricht der westlichen Kultur"
„Lean muss in eine Richtung angehoben werden, die zur westlichen Kultur, Denk-, Handlungsund Gefühlswelt passt.“ Die Methoden in Lean laufen dem typischen europäischen Denken zuwider, behauptet Autor und Lean Experte Prof. Dr. Dr. Alexander Tsigkas. Über Lean in Griechenland, Italien, Polen und Finnland.
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"The Modern Lean Enterprise – From Mass Customisation to Personalisation" lautet das aktuellste Buch von Prof. Dr. Dr. Alexander Tsigkas. Der renommierte Wissenschaftler aus Griechenland beobachtet: Lean ist in vielen Unternehmen weltweit weitgehend Standard geworden, hat aber nicht die versprochenen Ergebnisse gebracht. Tsigkas begründet dies in zweierlei Hinsicht. Erstens seien die Erwartungen der Unternehmen zu hoch gesteckt worden, und zweitens sei es ihnen mit der Umsetzung von Lean nicht ernst genug gewesen. Er verknüpft diese Gründe miteinander. Generell könne es zu diesen Fehlern nur kommen, weil das Lean-Konzept der westlichen Kultur widerspreche: „Sie haben das Lean-Konzept auf den schmalen Pfad der Verschwendung beschränkt. Und die Jagd nach Verschwendung wurde zu einer Schimäre“, erklärt er in seinem Buch.
Lean in Europa
Die Einführung von Lean Thinking und Lean-Techniken liegt in seinem Heimatland Griechenland etwa 15 Jahre zurück, erklärt Tsigkas. Es begann mit Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen, die in Griechenland ansässig waren. Im Laufe der Zeit setzte sich Lean zunehmend in mittelgroßen Unternehmen durch. "Insgesamt würde ich jedoch sagen, dass sich Lean Management in der griechischen Industrie langsam, aber doch mit steigender Tendenz durchsetzt. Es geht mit der Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal einher, das diese Techniken und Methoden, die dem typischen westlichen Denken widersprechen, umsetzen kann. Das gilt natürlich nicht nur für Griechenland, sondern auch international, insbesondere in Europa."
Europäische Unternehmen erhoffen sich vor allem einen wirtschaftlichen Vorteil. Schaffen es jedoch häufig nicht, Lean zu implementieren. So berichten die Autoren Alberto Portioli Staudacher und Marco Tantardini in ihrer Italien-Studie mit dem Titel Lean production implementation: A survey in Italy. Die schlanke Produktion sei ein trügerisch einfacher Ansatz, fügen sie hinzu: Er scheint leicht zu verstehen und umzusetzen, ist es aber nicht. Die Zahl der Unternehmen, die Staudacher und Tantardini im Rahmen ihrer Studie betrachteten und die keine nennenswerten Verbesserungen mit Lean erzielten, ist relativ groß. Verschiedene Studien zu europäischen Ländern stellen übereinstimmend fest: Die erfolgreiche Umsetzung der Lean Methoden hängt eng mit deren Verständnis zusammen. Dieser spezifische Aspekt wurde unter anderem auch in Griechenland im Jahr 2016 durch Salonitis und Tsinopoulos untersucht.
Angst vor dem Unbekannten
In griechischen Produktionsunternehmen zeigte sich ein anderes Verständnis von Lean, als in der gängigen Literatur dargestellt wird. Dieses Missverständnis erstreckt sich vom Management bis zu den Produktionsmitarbeiter:innen. Und genau das ist das Problem: Wie soll etwas umgesetzt werden, dass nicht „richtig“ verstanden wird? Salonitis und Tsinopoulos teilen Tsigkas Beobachtung. Sie fordern das Personal durch Schulungen zu qualifizieren, damit dieses Missverständnis über Lean vermieden werden kann. Entsprechend erklärte der bekannte Lean Experte Jeffrey K. Liker im exklusiven Interview mit der LeanBase.de mit: "Es liegt an den Unternehmen, in die Ausbildung zu investieren und wirklich eine Mentalität zu schaffen, in der Manager eher Lehrer und Coaches als Diktatoren und Kontrolleure sind."
Die Einbeziehung der obersten Führungsebene ist von entscheidender Bedeutung. Nicht nur, um eine angemessene Schulung zu gewährleisten. Sondern auch, um Widerstände seitens der Mitarbeiter:innen zu vermeiden, die letztlich einer ordnungsgemäßen Umsetzung von Lean im Wege stehen würden. Salonitis und Tsinopoulos erklären, dass die Gründe für eine ablehnende Haltung unterschiedlich sind. Sie reichen von mangelnden Kenntnissen über Lean-Tools bis hin zum fehlenden Verständnis für die Notwendigkeit von Veränderungen. In Polen wurde unter dem Titel "Lean Philosophy Implementation in SMEs – Study Results" zum Beispiel festgestellt, dass vor allem die Angst vor dem Unbekannten eine Herausforderung für die tatsächliche und erfolgreiche Umsetzung von Lean darstellt.
Diese Herausforderungen werfen jedoch die Frage auf: Gibt es überhaupt ein "richtiges" Verständnis von Lean? Oder sollte jedes Unternehmen Lean für sich selbst definieren – und es an seine Bedürfnisse anpassen? Schließlich meinte auch Tsigkas, dass Lean in eine Richtung entwickelt werden sollte, die der westlichen Kultur und Denkweise entspricht. Auf diese Weise könnte Lean weniger unbekannt werden. Die Angst in den Unternehmen vor neuen Entwicklungen verringert sich.
Kultur beeinflusst das Lean-Verständnis
"Die Grundlagen von Lean sind und bleiben überall gleich. Aber alle Länder haben eine unterschiedliche Auslegung, wie einzelne Menschen Lean lernen", erklärte Nadja Böhlmann im Gespräch mit uns. Sie ist eine der Moderator:innen und Teil des Orga-Teams des Bühnenprogramms auf dem LeanAroundTheClock, das Jahres-Event der Lean-Community in Deutschland. Den Einfluss der Kultur auf das Lean Verständnis vergleiche sie damit, wie die eigene Familie einen prägt. "Für mein Verständnis von Lean steht der Mensch klar im Fokus: Mit Menschen arbeiten. Menschen mitnehmen. Menschen begeistern. Genauso wie es bei Toyota propagiert wird", fügt sie als globale Kaizen Förderungsbeauftragte eines global agierenden finnischen Unternehmens hinzu.
Eine erweiterte Form von Lean?
Lean wird durch verschiedene Aspekte beeinflusst. Davon sind Lean Experten überzeugt. Muss Lean aber nun "in eine Richtung angehoben werden, die zur westlichen Kultur, Denk-, Handlungs- und Gefühlswelt passt“? Im Interview mit Jeffrey Liker findet man eine mögliche Antwort auf diese Frage. Er glaubt nicht, dass Europa eine erweiterte Form von Lean entwickeln müsse. Doch die Art und Weise, wie Unternehmen die Tools anwenden, kann aufgrund der nationalen Kultur unterschiedlich sein. Unternehmen haben nicht nur unterschiedliche Wertvorstellungen, sondern sind auch von unterschiedlichen Arten von Wettbewerb konfrontiert.
Autoren
Prof. Dr. Dr. Alexander Tsigkas verfügt über 25 Jahre internationaler Erfahrung in Lean Manufacturing mit über 50 Projekten in diesem Bereich. Sein erstes Buch "The Modern Lean Enterprise" veröffentlichte er im Jahr 2013. Die zweite Auflage folgte 2022. Heute ist er ein pensionierter Professor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Ioannina in Griechenland.
Marco Tantardini war von 2006 bis 2012 an der Universität Politecnico. Während seiner Zeit als Assistent für Forschung und Lehre verfasste er gemeinsam mit Alberto Portioli Staudacher, Professor an der Universität Politecnico, eine Studie: "Lean production implementation: A survey in Italy". Diese wurde im Jahr 2007 veröffentlicht.
Konstantinos Salonitis ist Professor für Fertigungssysteme, Leiter des Sustainable Manufacturing Systems Centre (SMSC) und stellvertretender Direktor für Fertigung an der Universität Cranfield. Christos Tsinopoulos ist geschäftsführender Dekan der School of Business and Management am Royal Holloway und Professor für Betriebs- und Projektmanagement. Ihre Studie "Drivers and Barriers of Lean Implementation in the Greek Manufacturing Sector" wurde 2016 veröffentlicht.
Katarzyna Antosz und Dorota Stadnicka arbeiten beide als Associate Professor am Lehrstuhl für Fertigungsverfahren und Produktionstechnik an der Fakultät für Maschinenbau und Luftfahrt der Technischen Universität Rzeszów. Gemeinsam verfassten sie die Polen-Studie "Lean Philosophy Implementation in SMEs – Study Results" im Jahr 2017.
*) Mit der Erstellung dieses Textes wurde von uns das futureorg institut beauftragt, welches wiederum Frau Sali Abbas hiermit beauftragt hat.
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