Die Zeit läuft uns davon

Die Zeit läuft uns davon

Warum Zeitmanagement nicht das hält, was es verspricht.

#leanmagazin
02. Juni 2017 um 12:08 Uhr in LeanMagazin von Prof. Walter Simon


Wer keine Zeit hat, dem fehlt ein wirksames Zeitmanagement, schreiben Autoren und lehren Trainer. Stress muss nicht sein, wenn man die richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt erledigt. So werden Sie Herr ihrer Zeit, lehren unsere Zeitmeister, zumeist Wirtschaftstrainer.

Bis heute gibt es keinen empirisch belastbaren Nachweis der allgemeinen Wirksamkeit von Zeitmanagement.
Was könnte sich als Nachweis eignen: Zeitgewinn, Ordnung im Tagesablauf, das geleistete Arbeitspensum? Mit einfachen Regeln sind Hektik, Stress und Zeitdruck kaum vermeidbar. Man fand bisher  keinen Wirkstoff gegen die Zeitkrankheit.
Das zeigt sich auch im Begriff ‚Entschleunigung‘, der als Alternative zum Zeitmanagement angeboten wird. ‚Go slow, selbst beim Coffee to go‘, lautete die Empfehlung. Doch die Entschleunigungspille erwies sich als Placebo. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Zeit-Management ein Handel mit der Illusion ist, die Unwägbarkeiten des Tagesablaufes in den Griff zu bekommen.

Zeitmanagement – Sammelsurium oder Planung?

Dem, was man als Zeitmanagement bezeichnet, fehlt die saubere Ab- beziehungsweise Begrenzung seines Gegenstandes. Was genau ist Zeitmanagement? Es gibt kein klar definiertes Regelwerk wie man es vom Projekt- oder Qualitätsmanagement her kennt. Die etablierten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ignorieren das Thema. Im Grunde ist Zeitmanagement ein Begriffscontainer, in den jeder Autor oder Personaltrainer das hineinpackt, was er für relevant hält, zumeist das, was er im Angebotsportfolio hat.

Zwei Stützpfeiler tragen die Idee des Zeitmanagements:

1. Zeitmanagement als Sammelsurium von Zeitspartechniken

Hier wird Zeitmanagement als ein Sammelsurium von zeitsparenden Techniken aus verschiedenen Bereichen des Berufsalltags definieren, z.B. Führung (Delegation), Kommunikation (Konferenztechnik), persönliche Arbeitstechniken (Schnell-Lesen), um nur die wichtigsten zu nennen? Manche Autoren und Trainer ordnen die Analyse der persönlichen Zeitsünden, wie Unlust, Aufschieberitis und Unentschlossenheit dem Zeitmanagement zu. Bei diesem Sammelsurium geht es insbesondere um die Ökonomisierung der Zeit, denn „Time is Money“ (Benjamin Franklin). Stimmt, denn Zeitgewinne sind Unternehmensgewinne, zumindest solange, bis andere Unternehmen den Zeitvorsprung ausgleichen.

Dieses Sammelsurium von Beschleunigungs- und Optimierungstechniken erweist sich bei genauer Betrachtung als ‚Muster ohne Wert‘. Zeitgewinn durch Schnell-Lesen gilt als widerlegt. Hier sollte man auch   den Zeitaufwand für das Üben mit dem Zeitgewinn abwägen. Die Delegation von Aufgaben an Mitarbeiter setzt voraus, daß diese über Freiräume verfügen. Das ist aber immer weniger der Fall. Die Empfehlung ‚nein‘ zu sagen klingt gut, aber untergräbt den Teamgedanken. Konferenztechnik funktioniert nur dort, wo das Umfeld mitspielt. Der Kommunikationsmüll aus Besprechungszimmern ist trotz Zeitmanagement nicht weniger geworden. Oft ist es der Chef, der respektlos mit der Zeit seiner Mitarbeiter umgeht und so jedwedes Zeitmanagement erschwert.

Der Vorgesetzte ist aber nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Führungskräfte leiden so extrem unter Zeitmangel, dass sie kaum noch Zeit für ihre eigentliche Aufgabe haben, Mitarbeiter zu führen. Führen bedeutet, auf Mitarbeiter einzuwirken. Wann und wie soll das geschehen, wenn die Zeit zu Mitarbeitergesprächen fehlt? Dass dem so ist, belegen viele Studien. Untere und mittlere Führungskräfte  werden so sehr mit Sachaufgaben überhäuft, dass für die Führungsrolle keine Zeit bleibt. Da hilft auch kein noch so gutgemeintes Zeitmanagement.

2. Zeitmanagement als Planungsmethode

Der zweite Ansatz geht davon aus, dass es sich beim Zeitmanagement um allgemeine, transsituationale Planungsregeln handelt, z.B. Tagesziele setzen, Leistungsrhythmus beachten, ungestörte Arbeitsblöcke schaffen, Pufferzeiten einplanen. Diese sollen einem Supermarktmanager genauso wie  einem Universitätsprofessor helfen, seine Zeitnutzung bewusster zu gestalten und die Arbeitslast stressärmer zu bewältigen. Aber die Last wird nicht weniger. Im Gegenteil, Freiräume könnten genutzt werden, noch dieses oder jenes in den Tagesablauf hineinzupressen.

Dieses Zeitmanagement wendet sich im Wesentlichen an den Schreibtischarbeiter. Wer einen genauen Blick in die berufliche Vielfalt wirft, stellt fest, daß der Anwenderkreis für eine eigenverantwortliche Zeitplanung gering ist. Im Büro mag es möglich sein, Pufferzeiten einzuplanen, aber nur dort, wo nicht taktgebunden gearbeitet wird oder kein Publikumsverkehr besteht. Ein Krankenhausarzt im Nachtdienst weiß zu Dienstbeginn noch nicht, was seine Prioritäten sind und wird kaum ungestörte Arbeitsblöcke planen können. Bei der großen Zahl der direkt am Menschen tätigen Dienstleister wie Kellner, Taxifahrer,  Post- oder Paketzusteller, Schalterangestellter, Friseur  oder Zug- beziehungsweise Flugbegleiter beschränkt sich Zeitmanagement auf  die Terminplanung im Rahmen der Dienst- oder Öffnungszeiten. Das gilt ebenso für stationäres Verkaufspersonal. Auch bei mobil tätigen Vertriebsmitarbeitern reduzieren sich die planerischen Gestaltungsmöglichkeiten auf die Tourenplanung. Von den klassischen Managementfunktionen Zielsetzung, Planung, Entscheidung, Durchführung und Kontrolle bleibt nur die Realisation übrig, und zwar so, wie in der Ausführungsbeschreibung vorgegeben. Bei klassischen Industriearbeitern, bei Polizisten und Soldaten, Putzfrauen und Berufskraftfahrern und vielen anderen Berufen besteht fast keine Möglichkeit individueller Zeitgestaltung.

Anders dagegen ein Finanzbeamter, der im Einzelbüro weitgehend ungestört von äußeren Einflüssen und anderen Mitarbeitern Steuererklärungen bearbeitet oder ein selbständiger Rechtsanwalt, der Gerichtstermine, Mandantengespräche und seine Schreibarbeit koordinieren muss.

Das, was auf dem Literatur- und Seminarmarkt unter dem Begriff Zeitmanagement angeboten wird, ist auf den individuell arbeitenden Bürobeschäftigten zentriert. Es stellt sich die Frage nach der Kompatibilität zu einer Arbeitswelt, die durch Gruppenarbeit geprägt ist und Teamwork als adäquates Verhalten propagiert. Hier gilt: Zeitmanagement kann nur funktionieren, wenn es mit der Zeitplanung der Kollegen abgestimmt ist. Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Der planende Mitarbeiter ist nur eines von mehreren Gliedern in der Abteilung.

Der neurologische Faktor im Zeitmanagement

Im Zeitmanagementangebot der Jahre nach 2000 wird auf die Bedeutung der Persönlichkeit für die Zeitplanung hingewiesen. Das war längst überfällig, da Zeitmanagement von Eigenschaften wie Organisationsvermögen und Standhaftigkeit, Kommunikation und Kooperation, Leistungsvermögen und Stressbewältigung, Gesundheit und der Bereitschaft, vernehmlich nein zu sagen, abhängt. Das aber könnte als Leistungsverweigerung oder unkooperatives Verhalten gedeutet und zum Karrierehemmnis werden. Welcher Mitarbeiter stellt sich abseits, wenn es ‚um die Wurst geht‘. Darum geht es aber jeden Tag. Die subtilen Mechanismen leistungsorientierter Organisationen sorgen dafür, daß sich alle, insbesondere aber die älteren Mitarbeiter, dem Tempo der High-Performer anpassen, um nicht als leistungsschwach dazustehen.

Wenn das persönliche Zeitmanagement durch Persönlichkeitseigenschaften geprägt ist, stellt sich die Frage nach den neurologischen Auslösern menschlichen Verhaltens. Angenommen es stimmt, was der renommierte Neurologe Gerhard Roth herausgefunden haben will, dann haben genetische Prägungen und Gefühle den größten Anteil an unserem Verhalten. Nicht das Großhirn, sondern das limbische System steuert Denken, Wollen und Handeln. Grundlage ist eine unterbewusste Bewertung von ‚gut‘ oder ’schlecht‘, ‚erfolgreich‘ oder ‚erfolglos‘ und die damit einprogrammierten Positiv- oder Negativgefühle. Gefühle sind die ‚höchstrichterliche‘ Entscheidungsinstanz.

Die frühkindlich eingesetzte Programmierung des Unterbewusstseins wirkt wie ein Rahmen, der Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen blockiert. Das Gewohnte ist vertraut, es belohnt mit guten Gefühlen. Die Parole aus der neurologischen Ursuppe lautet: Weitermachen-wie-bisher. Warum soll man sein Arbeits- und Zeitverhalten  verändern, wenn man es mit seiner Schlampomanie bis zum Diplomabschluss brachte? Das erklärt auch, warum die Ratgeberliteratur zum Thema Zeitmanagement zumeist wirkungslos bleibt. Nach kurzer Zeit übernehmen die alten Gewohnheiten wieder das Kommando. Der Grund: Unser innerer Schweinehund will unmittelbare Belohnung. Alles muss schnell und leicht gehen. Darum funktioniert es nicht mit dieser Regel des Zeitmanagements ‚Mit dem Wichtigsten sofort beginnen‘. Der Grund hierfür: Der Mensch erledigt zuerst das, was ihm gefällt, vor dem, was Unwohlsein bereitet, das, was schnell geht, vor dem, was länger dauert und das, was bekannt ist, vor dem, was neu ist.

Für Verhaltensänderungen interessieren sich die Teilnehmer von Zeitmanagement-Seminaren kaum. Sie fragen nach Instrumenten und Methoden. Außerdem verharren sie auf der operativen Ebene täglicher Arbeitsbewältigung im Maschinenraum des Alltags, ohne über eine sinnerfüllte und selbstbestimmte Lebensführung nachzudenken. Time-System befriedigte dieses Bedürfnis mit 300.000 Planungsbüchern (Stand 1991) pro Jahr zum Preis von damals 150 DM aufwärts, je nach Ausstattung.

Trotz bester, mittlerweile elektronischer Instrumente, trotz diverser Modifikationen des Zeitmanagements, wurden und werden Zeit- und Termindruck, Stress und Frust nicht weniger. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Im Gegenteil, es wird noch schlimmer kommen. Burn-out wird zur neuen Volksseuche.



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