Der Märchenliebhaber - Folge 21
Im Folgenden hören Sie einen weiteren Mitschnitt eines Interviews mit dem CEO der WMIA Incorporated, Herrn Dr. h.c. Any Nemo. Heute geht es um Märchen. Die Märchen, die Dr. Nemo liebt…
Wie immer ist der Interviewer bestens vorbereitet.
Heute geht es um Märchen, die Märchen, die Dr. Nemo, CEO von WMIA Inc., Los Straneros liebt.
„Wir sind ja alle mit Märchen groß geworden“, fand der Interviewer in seiner vorbereitenden Forschung heraus.
Da gab es das Märchen vom Weihnachtsmann, dem Nikolaus, dem Klapperstorch und noch einigen weiteren regional bedingten Märchenfiguren, deren Realität wir als Kinder nie anzweifelten. Warum auch? Wir aßen unsere Spinatteller leer, weil es morgen dann schönes Wetter gibt, was manchmal hinhaute und das geliebte Nasenbohren ließen wir Jungens lieber sein, weil Muttern sagte, dass eines Tages der Finger in der Nase stecken bleibt. Das wollten wir ja nicht. In der Jugend gab es dann noch ein paar Märchen über angeblich schlimme Betätigungen, die wir zwar schon nicht mehr wirklich glauben wollten, die aber zumindest ein schlechtes Gewissen machten… und manche dieser Märchen wirken noch heute.
„Na dann schaun mer mal“, dachte der Interviewer und betrat das Büro des Vorstands im 124. Stock.
Es bedarf immer wieder der Erwähnung, dass Dr. Nemo stets dem Anlass entsprechend korrekt gekleidet ist. Elvira hatte ihm das heutige Thema avisiert und Nemo saß wie immer elegant am Schreibtisch. Seine Krawatte hatte das Sterntalermotiv.
Das Besondere seiner heutigen Inszenierung war ein schwarzer Zylinderhut, ein Chapeau Claque auf seinem Schreibtisch. Was es damit auf sich hat, erfahren wir später.
Interviewer: „Elvira sagte mir, dass Sie gern Märchen lesen.“
Nemo: „Ja und Sie möchten sicher wissen, warum ich Märchen liebe?“
Interviewer: “Ja gern, ein Mann wie Sie liest Märchen?“
Nemo: „Ein Mann in meiner Position muss Märchen sogar lieben.“
Interviewer: „Ist Ihre Welt nicht die der harten Fakten? Steht das Märchenlesen dazu nicht im Widerspruch oder lesen sie die nur zur Entspannung?“
Nemo: „Sie meinen eine literarische Worklifebalance?“
Nemo lächelte als freute er sich über diesen vermeintlichen Seitenhieb auf diesen modischen Begriff.
Nemo: „Nein, Märchen sind der Kern meines Tuns, würde ich sie nicht lieben, wäre ich fehl am Platze.“
Interviewer: „Mmmmh, wie kommen Sie darauf, dass Märchen der Kern Ihres Tuns sind?“
Nemo: „Wir sind nicht umsonst das größte Unternehmen der Welt. Unsere Größe beruht auf einer Erkenntnis über das Leben, the formula of life.“
Interviewer: „Na da bin ja gespannt.“
Kurze Bemerkung: Die „formula of life“ ist ja etwas, von dem viele behaupten, sie hätten sie gefunden, eigentlich ist das ein Unwort. Immerhin spricht es für Dr. Nemo, dass er damit erfolgreich ist.
Nemo: „Sie kennen sicher Shakespeare, Macbeth.“
Interviewer. „Ja, sicher.“
Nemo: „Dann kennen Sie auch den Satz, den Macbeth über das Leben sagte:
Was ist Leben? Ein Schatten, der vorüber streicht!
Ein armer Gaukler,
Der seine Stunde lang sich auf der Bühne
Zerquält und tobt; dann hört man ihn nicht mehr.
Ein Märchen ist es, das ein Thor erzählt,
Voll Wortschwall, und bedeutet nichts.
Der Interviewer dachte an die Bibliotheken, in denen er saß und lernte… lange Meter voll Wortschwall, weggewischt von einem Satz der Poesie.
Ein zweites „Mmmmh“ fiel ihm erstmal ein.
Interviewer: „Ist das nicht depressiv?“
Nemo: „Nein, es ist produktiv. Zu wissen, dass man Märchen erzählt, macht frei, nicht zu wissen, dass es Märchen sind, macht dumm.“
Interviewer: „Geben Sie mal Beispiele!“
Nemo: „Es gibt zwei Arten von Märchen. Die einen sind die modernen Märchen. Das sind die Forecasts der Unternehmen und die Aktienanalysen der Experten. Das ist eher die „Yellow Press“ der Märchenliteratur, leicht geschrieben und jeden Tag neu, told by an idiot …. Sie haben das Niveau der flüchtigen Liebesgeschichten der Filmstars, ich lese sie gerne, wenn ich wirklich nichts zu tun habe.
Die andere Art der Märchen ist die in Literatur gemeißelte Erkenntnis über das Leben. Das Märchen ist nur die Erzählform, der Inhalt ist ewig.“
Interviewer: „Welches Märchen aus der Literatur lieben sie besonders?“
Nemo: „Ich liebe das Märchen vom Sandmännchen sehr. E.T.A. Hoffmann hat es zuerst aufgeschrieben. Dieses Sand in die Augen streuen hat uns schon als Kinder zum Schlafen gebracht. Wir streuen Sand in die Augen und unsere Kunden schlummern ein, selig.“
Interviewer: „Was hat es mit dem Chapeau Claque auf sich.“
Nemo: „Unter diesem Zylinder hockt auf Rummelplätzen ein weißes Karnickel, das der Magier zum Staunen der Menge zeigt.“
Nemo hob den Zylinder hoch.
Nemo: „Sehen Sie, da ist nichts darunter. Wir wissen, dass das nur ein Märchen ist, aber die Schlafenden träumen vom weißen Karnickel, das der Magier oder der CEO hervorzieht…“
Elvira begleitete den Interviewer zum Fahrstuhl.
Interviewer: „Ist Nemo ein Magier, ist er nicht einsam?“
Elvira: „Darüber werden wir nächste Woche Dienstag sprechen…“
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