Zeitorientierung: Die vielleicht letzte Chance für die Lean-Bewegung, um Lean und sich selbst neu zu erfinden

Zeitorientierung: Die vielleicht letzte Chance für die Lean-Bewegung, um Lean und sich selbst neu zu erfinden

Die Hinwendung zur Zeitorientierung bietet eine einzigartige Gelegenheit dazu, das Lean-Spiel zu drehen. Zeit könnte der Schlüssel zur Transformation ganzer Unternehmen und Branchen sein – so, wie die Lean-Pioniere mehrerer Generationen es vorgedacht haben. 

30. Juni 2025 um 04:30 Uhr von Niels Pfläging | Red42
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Vor einigen Tagen ist das das 24. Forschungspapier des BetaCodex Network erschienen: Slave to the Rhythm: Adopt Time-Oriented Work Systems. Now. Im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung zu Zeitorientierung, Rhythmus und Flow-Organisation lade ich dich dazu ein, die Geschichte der Lean-Bewegung an dieser Stelle etwas genauer zu reflektieren. Der Blick in die Geschichte von Lean hilft dabei, sich zu vergewissern, warum Zeitorientierung „das fehlende Puzzlestück“ zu Lean-Transformationen ist, die den Namen verdienen, und der Schlüssel zur Schaffung "wahrhaft leaner" Unternehmen. Unabhängig von der Größe und spezifischen Branche oder Geschichte einer Organisation.

Doch lasst uns zunächst zu den Anfängen zurückgehen. Der Aufschwung von Lean begann in den frühen 1990er Jahren – er wurde durch die Veröffentlichung eines einzigen, einflussreichen Buches ausgelöst, The Machine That Changed the World (deutsch: Die zweite Revolution in der Autoindustrie) von James P. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos, veröffentlicht im Jahr 1990. Das Buch machte das Konzept der Lean Production einem breiten westlichen Publikum bekannt und wurde ein weltweiter Bestseller. Es folgte eine Boomphase, die fast zwei Jahrzehnte lang anhielt und die eine florierende Lean-Industrie hervorbrachte. Ende der 2000er Jahre ging es mit Lean jedoch bergab. Der öffentliche Enthusiasmus für Lean Management begann zu schwinden. Unternehmen stellten fest, dass sie nicht den Nutzen aus Lean zogen, den sie sich vorgestellt hatten. Nur sehr wenige Unternehmen erreichten annähernd etwas, das der Art von Ultra-Effektivität entsprach, die Toyota durch ultra-disziplinierte Anwendung der Lean-Prinzipien erreicht hatte.

Aber die Bewegung hatte schon Jahre zuvor begonnen, in die völlig falsche Richtung abzubiegen – lange bevor sich der Niedergang der Lean-Industrie dann in schwindender Popularität, geringerer Attraktion und sinkenden Umsätzen der Lean-Industrie abzeichnete. Denn Anfang der 2000er Jahre hatten die meisten Lean-Experten, -Berater und -Unternehmen bereits in den Tool-Modus gewechselt, oder sie hatten sich auf groß angelegte Zertifizierungen, Schulungen und Lösungen verlegt, die im Großen und Ganzen viel zu mechanistisch, viel zu kurzsichtig waren – und die oft sogar gegen die grundlegendsten Lean-Prinzipien verstiessen. Schon ein Jahrzehnt nach „The Machine that Changed the World“ beschäftigte sich kaum noch jemand ernsthaft mit Lean als systemweiter Veränderung. Ein früher Indikator für das Abgleiten in Lean-Toolismus, Stückwerk-Ansätze und "Lean-Flunkerei" war der Aufstieg der Six Sigma-Methode, die durch den Einsatz von Jack Welch ab 1995 in Lean-Kreisen und darüber hinaus großen Einfluss erlangte. Viele Leaner erlagen der Attraktivität von Six Sigma-Schulungen und -ritualen – auch wenn der Six-Sigma-Ansatz dem Anspruch der Lean-Prinzipien weitgehend zuwiderlief und den systemischen Charakter der von Toyota ausgehenden Lean-Bewegung eindeutig vermissen liess.

Lean-Praxis: alles andere als bemerkenswert

Im Großen und Ganzen besteht heute Einigkeit darüber, dass die missliche Lage der Lean-Szene nicht darauf zurückzuführen ist, dass Lean-Prinzipien irrelevant geworden wären. Vielmehr treten die Grenzen der gängigen Lean-Ansätze und Tools in einer sich rasch verändernden Industrielandschaft deutlich zutage. Hört man sich die gern vorgebrachten Gründe für mangelnde Akzeptanz und Nachhaltigkeit des Einsatzes von Lean in der Praxis an, so hört man von mangelndem Engagement des Managements, von fehlender Kopplung der Lean-Arbeit mit anderen Initiativen, oder vom unzureichenden Engagement der Mitarbeitenden. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich diese und andere Begründungen als  Symptome – und keinesfalls als Probleme. Und die Symptome deuten möglicherweise auf die immer gleichen Ursachen hin.

Nehmen wir das Beispiel eines der heute populärsten Lean-Ansätze: Toyota Kata. Der Kata-Ansatz zielte ursprünglich darauf ab, die fundamentalsten Grundsätze von Lean in Unternehmen zu verankern. Er wurde dann aber schnell zu einem groß angelegten Zertifizierungs- und Schulungsgeschäft. Die Ziele von Green Lean, einer anderen neueren Idee in der Lean-Szene, sind ebenfalls absolut lobenswert. Aber derartige Etikettierungen bieten leider wenig Orientierung dabei, wie sich Lean-Organisation tiefgreifender und auch transformational einsetzen liesse. In der Zwischenzeit scheint die Vorbildfunktion des größten Lean-Beispiels überhaupt, des Toyota Production System zu schwinden. Nicht weil Toyota heute weniger erfolgreich wäre. Sondern weil es für die meisten Unternehmen immer schwieriger vorstellbar ist, wie derartige Höchstleistung zu erreichen sein könnte. In unserem neuen Forschungspapier zur Zeitorientierung gehen wir genauer auf dieses scheinbare Erreichbarkeits-Dilemma ein.

Das wirft die Frage auf: Wie können wir Lean bzw. Lean-Transformation systemisch und systemüberwindend gestalten – so wie Toyota es geschafft hat? Wie können wir diese Art von Transformation zügig und unter Einbeziehung aller Funktionsbereiche eines Unternehmens vollziehen – so dass die Lösung schlüssig ist und die Wirkungen sich weitgehend selbst verstärken können? Und schnell muss es gehen: Denn wer will schon mehr als drei Jahrzehnte damit verbringen, das Unternehmen zu transformieren - so wie es Taiichi Ohno und seine Kollegen in den 1950ern bis 1970ern getan haben? Wie du in unserem Forschungspapier und in meiner Videoreihe hier auf LeanBase sehen kannst, gibt es heute völlig andere Möglichkeiten als zu Ohnos Zeiten,, um Lean Transformation so schnell und umfassend durchzuführen, dass die Schlüsselphase der Transformation nur wenige Monate lang dauert. Ausserdem bedarf sie nur sehr weniger Berater.

Lean als System kann niemals „eingeführt“ werden

Das Problem mit Lean-Tools ist dass sie weder selbst ein System sind, noch dass sie überhaupt systemisch wären. Das ist auch der Grund, warum sie "implementiert", umgesetzt und eingeführt werden – und warum sie problemlos gekauft und angeschafft werden können. Man bringt ein Werkzeug in ein System ein – fertig! Gut, das Tool wird vielleicht nicht gerade die Wirksamkeit haben, die es haben könnte. Oder es wird nicht alle Wirkungen hervorbringen, die Sie sich wünschen. Aber Sie können die Tools zumindest "anwenden". Mit Lean oder mit TPS hat das natürlich gar nichts zu tun.

Lean als System hingegen widerspricht Implementierung, es entzieht sich Schulung, Umsetzung durch Zertifizierung, Pilotprojekten, Experimenten und "Probieren". Lean als System – also das, was wir hier als vernünftiges Lean bezeichnen - kann nur durch die Systemüberwindung erreicht werden: in der gegenwärtigen Realität von Industrie und Produktionsunternehmen ist das gegenwärtige System in der Regel eins mit (relativ) grossen Chargen, Auslastungs- und Volumenorientierung, das durch ein hohes Maß an interner Steuerung und Management nach Zeilen fernab der "Gemba" gekennzeichnet ist, und dass sich durch Besessenheit von Systemoptimierung auszeichnet. Wie du in unserem Forschungspapier sehen wirst, erfordert die Systemüberwindung – weg von der Chargenverarbeitung und Auslastungsorientierung hin zur Zeitorientierung – der Autorisierung durch einen Sponsor und einen Ansatz, der die Arbeit am System, statt Arbeit an Menschen in den Vordergrund rückt. Die gute Nachricht: Ein solcher Angang an Lean-Transformation ist weitaus leistungsfähiger und schneller als Inkrementalismus, Stückwerk und die Implementierung von Lean-Tools ohne vernünftige Autorisierung. Lean-Transformation, die den Namen verdient, ist nicht nur machbar. Sie geht auch schneller als Herumprobieren - und, tja, in gewisser Weise auch "leichter."

Quelle: “Slave to the Rhythm”.-Forschungspaper von Niels Pflaeging (BetaCodex Network, 2025)

Zur Erinnerung: Toyota brauchte mehr als drei Jahrzehnte, um die Lean- bzw. TPS-Prinzipien im gesamten Unternehmen und in seinem Netzwerk von Lieferanten einigermaßen durchgängig in Wirkung zu bringen. Kein Unternehmen könnte sich heute einen so langsam voranschreitenden Transformationsprozess leisten – keine Lean-Transformation wird jemals wieder so viel Zeit und eine so dauerhafte Autorisierung dazu erhalten, um so langsam voranzukommen. Die Bedingungen von Toyota im Japan der 1950er bis 1970er-Jahre waren eben sehr spezifisch. Heutige Unternehmen aber müssen Lean Transformation aber deutlich schneller erreichen. Die gute Nachricht ist: Eine solche, ganzheitliche Transformation von Organisationssystemen nimmt deshalb nicht mehr so viel Zeit in Anspruch, weil wir einerseits von Toyota und anderen lernen können, was Lean geht. Ausserdem verfügen heute über weitaus leistungsfähigere Methoden zur sehr schnellen Organisationsgestaltung, als Taiichi Ohno und seine Kollegen sie zur Verfügung hatten. Diese Methoden zur Systemüberwindung werden ebenfalls im Whitepaper Slave to the Rhythm näher erläutert.

Hier schliesst sich eine wichtige Beobachtung an. Die Lean-Bewegung ist vor allem deshalb hinter den an sie gestellten Erwartungen zurückgeblieben, weil sie sich nie auf Wissen und Methoden zeitgemäßer Organisationsgestaltung eingelassen hat, die robuste Transformationen innerhalb relativ kurzer Zeit ermöglicht hätten. Anders ausgedrückt: Die Wissenschaft der Veränderung wurde von den Lean-Vordenkern und -Praktikern nie richtig ernst genommen. Vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse aus Bereichen wie Soziologie, Betriebswirtschaft, Psychologie und Sozialpsychologie wurden vorsätzlich und gründlich ignoriert. Das zeigt sowohl die Lean-Literatur, als auch die Lean-(Beratungs)-Praxis der letzten Jahrzehnte sehr eindringlich. Stattdessen wurde „ständiges Experimentieren“ zum einzig legitimen (!) Ansatz bei der Einführung von Lean erklärt - dies hat Lean-Ikone James Womack, einer der Autoren von The Machine that Changed the World. noch im Jahr 2025 bekräftigt.  Im Grunde haben Womack und andere die Logik der kontinuierlichen, inkrementellen Verbesserung überstrapaziert, indem sie sie auf Systemüberwindung und Arbeit am System übertragen haben. Systemüberwindung bedarf aber alternativer Glaubenssätze und entzieht sich der Optimierung. Diese Fehlleistung zahlreicher Lean-Vordenker der letzten Jahrzehnte ist  ein perfektes Beispiel für „überdehnte Inselrationalität einer Idee“ - in diesem Fall der Idee der kontinuierlichen Verbesserung und Optimierung.

Wir in der BetaCodex-Bewegung wissen, dass das Ignorieren bestehender, überlegener Theorien der Veränderung wahrscheinlich zu Dilettantismus, Verzögerung, Versandung und letztlich zum Scheitern bei der Systemüberwindung führen wird. Man könnte sagen, wir haben diese Einsicht "auf die harte Tour gelernt", denn die Beyond Budgeting-Bewegung, die dem BetaCodex vorausging, litt unter der gleichen Art von Transformationsanämie wie die Lean-Bewegung heute. Aber was steckt hinter dem unaufhörlichen Ruf nach Experimenten, Pilotierungen, Überzeugen und "ins Boot holen"? Ist es ein Mangel an Einsicht? Ist es Hybris? Oder ist es eine subtile Form des Nihilismus?

Kein Lean-Unternehmen ohne Lean Transformation. Aber Lean-Transformation ist eine Münze mit zwei Seiten

Die Lean-Bewegung hat (ebenso wie ihr agiles Geschwister), bisher nicht erkannt oder erkennen wollen, dass Lean-Transformation eine Münze mit zwei Seiten ist:

  • Die eine Seite, das sind die Lean-Prinzipien, Techniken, Tools und Technologien. Diese verstehen wir inzwischen recht gut, auch wenn die Zeitorientierung als wesentlicher Eckpfeiler von Lean bisher weitgehend übersehen worden ist.
  • Die andere Seite, das sind die Grundsätze, Techniken und Technologien der Organisationsgestaltung. An dieser Stelle sind Pioniere wie Ernst Weichselbaum, Ian Glenday und Rajan Suri viel weiter gegangen, als die Masse der Lean-Experten, Berater und Praktiker.

Das Problem: Ohne die zweite Seite, die Seite der Organisationsgestaltung, kann man weder „lean machen" noch lean werden! Kurz gesagt: Die Aufforderung von James Womack, sich bei der Lean-Transformation auf Experimente zu verlassen, ist gleichbedeutend mit dem Ausschluss jeglicher Rationalität und der Tabuisierung vieler vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem zweiten Bereich: Dem Bereich von Organisationsgestaltung, Systemtheorie und Psychologie. Die radikale, absolutistische Entscheidung für eine Haltung des Experimentierens kann letztlich nur als Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnis betrachtet werden. Was für eine Bewegung wie Lean, die sich rühmt, tief im wissenschaftlichem Denken rund um Logik und Systemverständnis verwurzelt zu sein, ziemlich merkwürdig ist.

Oder, um es positiv zu formulieren: Zwar waren sich frühe Pioniere wie W. Edwards Deming der Wissenschaft der Systemüberwindung durchaus bewusst, aber vieles davon ist in den Jahrzehnten danach verloren gegangen. Zumindest vorläufig. Ich bin der festen Überzeugung, dass Taiichi Ohno bei Toyota seine Arbeit als viel mehr denn als "ein Experiment" betrachtete. Ohno war sich voll und ganz bewusst, dass die Systemüberwindung bei Toyota, bei Lieferanten und Händlern Autorisierung, Einladung und Chosen Agency (Aktive Teilhabe), wie wir es in unserem neuen Forschungspapier nennen, erforderte. Es liegt an uns selbst, die Qualität der Einsicht zurückzugewinnen, die die Pioniere der Lean-Bewegung hatten. Wir müssen in unserer systemüberwindenden Arbeit wieder an Deming und Ohno anknüpfen - statt an den Irrungen und Wirrungen der letzten Jahrzehnte in der Lean-Bewegung.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zeitorientierung der Weg nach vorn und der Ausweg aus dem Irrgarten der Lean-Transformation ist, mit dem die meisten produzierenden Unternehmen und die Lean-Bewegung insgesamt heute konfrontiert sind.

Jetzt BetaCodex Network-Forschungspapier Nr. 24 lesen

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