HR hat die Digitalisierung nicht verstanden

HR hat die Digitalisierung nicht verstanden

Mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Erschrecken sehe ich, wie derzeit viele vermeintliche Digitalisierungsexperten auf einer imaginären Tribüne sitzen und den digitalen Wandel wie eine Sportveranstaltung beobachten. Manche schließen Wetten darauf ab, wer Sieger oder Verlierer sein wird oder machen Spielanalysen. Andere wiederum rufen gute Vorschläge auf das Spielfeld oder bieten sich als Coaches an. Dabei haben sie nicht verstanden, dass sie selbst Teil des Spiels sind und unterschätzen die Auswirkungen des digitalen Wandels massiv. Denn es geht nicht um die Digitalisierung des Bestehenden, sondern um seine fundamentale Umwälzung.

#ChannelS
Podcast, am 16. 01. 2023 in ChannelS von Prof. Dr. Andreas Syska


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Das Ende von HR

Die gute alte Personalabteilung nennt sich heute »HR«. Dies steht für Human Resources und labelt die Menschen somit als Rohstoffquelle. Und genau dieses HR schreibt derzeit eifrig Qualifikationspläne, weil es glaubt, Dirigent des digitalen Wandels zu sein, dabei ist es dessen erstes Opfer. HR will wissen, wo und wann Arbeit stattfindet. Auch braucht HR die Unterscheidung zwischen eigenen Mitarbeitern und denen der anderen. Die Digitalisierung aber beendet die räumliche und zeitliche Begrenzung von Arbeit und verwischt den Unterschied zwischen intern und extern — der Betrieb im klassischen Sinn wird flüchtigen Netzwerken weichen. HR als stabilisierendes Element starrer Organisationen kann damit nicht umgehen und verliert somit seine Existenzgrundlage. Um diese zu retten bringt HR altbekannte Führungsweisheiten in den Kontext der Digitalisierung und reklamiert unter dem Brand „Digital Leadership“ die Deutungshoheit über das Digitale.

Wenn aber Personaler den Nutzen der Digitalisierung darin sehen, die Bewerberauswahl durch KI oder Bots durchführen zu lassen, haben sie nicht verstanden, um was es bei Digitalisierung geht. Das Wort „Recruiting“ ist Ausweis für rückwärtsgewandtes Denken. Rekrutiert werden Befehlsempfänger oder solche die es werden sollen. Aber nicht die Menschen, die wir zukünftig brauchen. Und noch etwas: Wer bewirbt sich heute eigentlich bei wem? HR scheint tatsächlich noch immer zu glauben, dass Unternehmen am längeren Hebel sitzen.

Das Ende der anderen

Wenn es für HR ein Trost sein sollte: andere haben die wahre Bedeutung von Digitalisierung auch noch nicht verstanden. Wo es keine Betriebe mehr gibt, gibt es natürlich auch keine Betriebsräte mehr. Die Digitalisierung bedeutet deren Ende und damit das der Gewerkschaften, da deren Art der Interessenvertretung auf der Präsenzkultur des 19. Jahrhunderts basiert. Nicht dass Interessensvertretung zukünftig überflüssig wäre, wer aber den hoffnungslosen Versuch unternimmt, die Realität des Digitalen so lange zu verbiegen, bis sie zum eigenen Vertretungsmodell passt, dessen Zeit ist nun einmal abgelaufen. Ach ja: Und wo es keine Betriebe mehr gibt, da gibt es natürlich auch keine Betriebswirtschaftslehre mehr. Seit Langem schon liefern ihre Modelle keine brauchbaren Antworten - nun macht die Digitalisierung die Modelle selbst obsolet. Wenn zudem dank BlockChain digitale Zahlungsströme in Echtzeit erfasst und gespeichert werden, braucht auch es niemanden mehr, der kontiert – also den Buchhalter. Auch niemanden mehr, der das Kontierte addiert, sprich: den Controller. Erst recht braucht es niemanden, der abschließend kontrolliert, ob richtig kontiert und addiert wurde, also den Wirtschaftsprüfer. Es braucht auch niemanden mehr, der kauft und verkauft, da Maschinen Rechtssubjekte sein werden und eigenständig Verträge abschließen dürfen. Schlechte Zeiten also für Verkäufer, Einkäufer und Wirtschaftsjuristen.

Was sagt eigentlich HR hierzu?

Ganz nebenbei: Bei allgemein verfügbarem Wissen, das in recht naher Zukunft auch direkt in unsere Hirne übertragen wird, ist es auch kein Zukunftsmodell, sich in einen Hörsaal oder eine Videokonferenz zu begeben und Dinge vorzulesen, die eine andere Person zuvor aufgeschrieben hat. Alle diejenigen, deren Geschäftsmodell auf Wissensvermittlung basiert, sollten alarmiert sein.

Mir scheint, dass dies alles noch nicht verstanden ist. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die Fans der Digitalisierung nur im Kontext des Bestehenden argumentieren. Und mittendrin HR, das sich bereitwillig zu deren Handlanger machen lässt.

Aber wird die Arbeit nicht anspruchsvoller und steht der Mensch nicht im Mittelpunkt der Digitalisierung? Nein, steht er nicht. Im Kontext der Digitalisierung wird der Mensch als etwas Defizitäres begriffen, was an die Digitalisierung anzupassen ist. So wird er in Kurse geschubst, um dort seinen Digitalführerschein zu machen. Man nennt es Bildung und missbraucht somit diesen Begriff. Das Argument, der digitale Wandel würde nur dann gelingen, wenn alle codieren können, ist Unsinn. Oder ist der Wandel zu einer Industriegesellschaft auch nur deshalb gelungen, weil alle eine Werkzeugmacherlehre gemacht haben? Überall wird den Menschen gesagt, wie sie arbeiten sollen. Keiner fragt sie, wie sie eigentlich arbeiten wollen.

Was sagt eigentlich HR hierzu?

Viele Unternehmen hierzulande haben sehr große Fortschritte gemacht, die Kreativität und die Begeisterungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zu aktivieren. Ein wichtiger Schritt dahin war die Überwindung desjenigen Teils des Taylorismus, der die Trennung von Denkenden und Ausführenden forderte. Heute hingegen gilt der Mensch als der Produktionsfaktor, der die beiden anderen Produktionsfaktoren - Maschine und Material - beherrscht. Kein Unternehmen, das diesen Weg gegangen ist, käme im Traum auf die Idee, das Rad zurückzudrehen.

Wohl aber die Protagonisten der Digitalisierung. Sie unterteilen die Welt wieder in Denkende und Ausführende. Denn Mitarbeiter werden nicht eingeladen, an der Gestaltung des Systems »Digitalisierung« mitzuwirken. Dies bleibt einer kleinen Gruppe selbst ernannter Experten vorbehalten. Und das ist ein Rückfall in die Vergangenheit.

In Fabriken wird es deutlich: Algorithmen und das Internet der Dinge sorgen dafür, dass den Menschen nicht mehr von anderen Menschen ihre Arbeit automatisch zugewiesen wird, sondern von Maschinen oder gar vom Material - und diese die Erfüllung dieser Arbeit auch gleich automatisch erfassen. Die Hierarchie der Produktionsfaktoren in der digitalisierten Welt ist auf den Kopf gestellt: mit dem Material an der Spitze, gefolgt von der Maschine und dem Menschen ganz unten. Der Taylorismus mit seinem Nicht-denken-dürfen ist wieder da. Weil er aber im digitalen Gewandt daherkommt, wirkt er so unwiderstehlich.

Was sagt eigentlich HR hierzu?

Wenn wir nicht aufpassen, haben wir zwei Arten von Mitarbeitern: diejenigen die Maschinen codieren und diejenigen, die Befehle dieser Maschinen zu erfüllen haben. In den Fabrikhallen werden Mitarbeiter auf digitale Schwesternklingel reagieren müssen, um den technischen Systemen zu dienen. Nicht viel anders im Service, der oftmals nicht mehr geleistet, sondern nur noch inszeniert wird: Mitarbeiter werden dazu degradiert, Systeme mit Daten zu füttern und Ergebnisse von Rechenprozessen dem Kunden vorzulesen.  

Management wiederum reduziert sich darauf, die Performance der Menschen anhand von KPIs zu beurteilen, die in Echtzeit auf den Computer oder das mobile Endgerät gespielt werden. Mitarbeiterführung wird ersetzt durch Management by Flachbildschirm. Mit anderen Worten: Die Digitalisierung ermöglicht den Führungsschwachen und Führungsunwilligen die lang ersehnte Flucht vor ihren eigenen Mitarbeitern.

Wie groß muss da die Erleichterung bei denen sein, die sich mit neuen Techniken der Führung, der Kommunikation und der Ideenfindung, also den ganzen »Räucherstäbchenrunden«, nie haben anfreunden wollen. Begeistert sind auch diejenigen, die Betriebsführung mit der Gestaltung von technischen Systemen verwechseln und es lieber mit Technik als mit Menschen zu tun haben.

Was sagt eigentlich HR hierzu?

Der Blick nach vorne

Vermutlich ist die Digitalisierung die größte Errungenschaft der Menschheit seit Erfindung der Schrift. Sie kann Wegbereiter für die Bildung einer Arbeitswelt und Gesellschaft sein, die wir uns immer erträumt haben. Dies alles kommt aber nicht einfach auf uns zu. Es ist Ergebnis unserer Taten. Unsere Taten wiederum sind das Ergebnis unserer Pläne. Und unsere Pläne sind das Ergebnis unserer Visionen und unserer inneren Haltung.

Es geht nicht darum, den Menschen mitzuteilen, was sie tun müssen, damit sie fit für die Digitalisierung sind. Vielmehr müssen wir der Digitalisierung mitteilen, was sie zu leisten hat, damit sie den Menschen nützt.

Und deshalb sollte HR hierzu endlich etwas sagen.



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